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Umkehrplastik (2)
Aus Puls vom 01.12.2014.
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Umkehrplastik (2/4) Die Zeit nach der Amputation

Vor zwei Monaten verlor Thomi Huber krebsbedingt sein Knie («Puls» berichtete). Sein Fuss wurde umgedreht an dessen Stelle gesetzt – das soll ihm ein besseres Gehen ermöglichen. Fürs erste muss er jetzt aber lernen, auf nur einem Bein zurecht zu kommen.

Vor einem guten halben Jahr erhielt Thomi Huber die Diagnose «Weichteilkrebs im linken Knie». Der bösartige Tumor hatte sich schon so ausgebreitet, dass eine Rettung des Knies unmöglich war. Das Bein musste amputiert werden.

Statt einer gewöhnlichen Amputation auf Oberschenkelhöhe schlugen ihm die Ärzte eine Alternative vor: die sogenannte Umkehrplastik. Diese nutzt das Sprunggelenk des zu amputierenden Beins, das in aller Regel nicht vom Tumor betroffen ist und dieselben Bewegungen durchführen kann wie ein Kniegelenk.

Statt nun also das ganze Bein zu amputieren, wird der Fuss inklusive Sprunggelenk belassen und so an den Oberschenkel geschraubt, dass sich das Sprunggelenk auf Höhe des ehemaligen Kniegelenks befindet – und zwar um 180° gedreht, so dass es wie ein Knie nach hinten gebeugt werden kann. So braucht es nur noch eine Unterschenkelprothese, was eine viel kleinere Einschränkung bedeutet als ein komplettes Kunstbein.

Am allerwichtigsten war mir, dass ich keine Phantomschmerzen habe. Die gibt es bei dieser Operation nicht, weil der Fuss ja dran bleibt.

Ein nach hinten schauender Fuss auf Kniehöhe – dieses Körperbild schreckt viele Betroffene ab und führt dazu, dass sie die nachteiligere komplette Amputation bevorzugen. Auch Thomi Huber musste anfänglich ein paar Mal leer schlucken, als er die Bilder sah, doch vom Kopf her war die Sache für ihn klar: «Am allerwichtigsten war mir, dass ich keine Phantomschmerzen habe, und die gibt es bei dieser Operation nicht, weil der Fuss ja dran bleibt. Zudem habe ich es mir überlegt: Die Operation an sich ist genial und man kann damit besser laufen. Also muss ich mit dem Aussehen eben umzugehen lernen.»

Totale Verwirrung

Mittlerweile lebt er seit zwei Monaten mit dem neuen Bein. Und anfangs war das Aussehen das letzte, was ihn beschäftigte. Er hatte starke Schmerzen; kaum verwunderlich, denn Knochen, Muskeln, Weichgewebe und Haut waren in einer siebenstündigen Operation durchtrennt und neu vernäht worden.

«Am schlimmsten war, dass ich die Schmerzen überhaupt nicht zuordnen konnte. Mein Unterschenkel fühlte sich immer noch wie ein Unterschenkel an, war aber plötzlich auf Oberschenkelhöhe. Ich wusste gar nicht, auf welcher Höhe es weh tat – zum Teil spürte ich die Operationsschmerzen auch irgendwo draussen im Raum, gar nicht im Bein.»

Vergleichende Röntgenaufnahme vor und nach der Operation
Legende: Rechts das Bein vor der Operation, links danach mit dem umgedrehten Fussgelenk anstelle des amputierten Knies. SRF

Auch dass der Fuss um 180 Grad nach hinten gedreht ist, machte ihm Probleme: Wenn er zum Beispiel mit dem Fuss vorne die Bettkante touchierte, fühlte es sich an als klemme ihn etwas von hinten ein, denn die (jetzt nach vorne zeigende) Ferse war sich noch gewöhnt hinten zu sein und am Boden zu stehen. «Ich hatte dann immer Panik ich werde eingeklemmt und falle gleich um und war auf viel Hilfe von Pflege und Physiotherapie angewiesen.»

Und die Hilfe benötigte er plötzlich in vielen Bereichen seines Alltags: Duschen, Toilette, ins Bett gehen, Aufstehen, Ankleiden – nichts ging mehr allein. «Dass so alltägliche Dinge wie Duschen plötzlich so schwierig werden, darauf war ich nicht ganz gefasst. Aber man stelle sich das vor, gerade in der Dusche, wo es nass ist und noch Seife am Boden hat: Man muss auf einem Bein raushüpfen, und wenn man fallen würde, wäre kein Bein da, um einen aufzufangen. Man würde mit dem frischoperierten Bein auf den Boden knallen – das wäre der Horror!»

Alle Tätigkeiten erfordern plötzlich volle Konzentration, denn bei Unaufmerksamkeit oder falscher Planung gerät er in Schwierigkeiten, denen er als momentan Einbeiniger hilflos gegenüber steht. Landet er zum Beispiel einmal schwächebedingt am Boden, kann er ohne weiteres nicht mehr aufstehen.

Alle Bewegungen neu lernen

Seine Tage sind deshalb im Moment vor allem mit zwei Dingen ausgefüllt:

  • Kraft im Oberkörper aufbauen, damit er sich in Zukunft mühelos mit Krücken bewegen kann, sich vom Sitzen aufziehen und hin und her bewegen kann.
  • Die Kraft in den Beinen wieder aufbauen. Auch im gesunden Bein ist wegen der langen Zeit in Bett und Rollstuhl kaum noch Kraft zum Stehen vorhanden. Und im operierten Bein muss er die Bewegungen von Grund auf neu lernen, automatisch funktioniert nichts mehr.

«Am Anfang konnte ich nur noch die Zehen bewegen, das geht gleich wie früher,» erzählt er. «Auf Höhe des Sprunggelenks, das ja jetzt als Knie wirkt, ging am Anfang gar nichts mehr. Ich konnte es nicht ansteuern. Im Vergleich zu damals habe ich schon riesige Fortschritte gemacht, aber ich kann immer noch nicht denken ‹in diese Richtung!›, und dann geht es. Ich muss die Bewegungen jetzt auf einer völlig anderen Ebene ansteuern und im Hirn abspeichern.»

Ich kann immer noch nicht denken ‹in diese Richtung!›, und dann geht es. Ich muss die Bewegungen jetzt auf einer völlig anderen Ebene ansteuern und im Hirn abspeichern.

Trotz täglichem Üben mit der Physiotherapeutin erfolgen die Bewegungen auch jetzt noch nicht automatisch und müssen immer aufs Neue mühsam erzeugt werden mit ausprobieren und korrigieren, bis Richtung und Achse stimmen. Noch sind es allerdings nur Trockenübungen, denn die Knochen sind noch zu wenig stabil verheilt, um das volle Körpergewicht zu tragen. Erst dann wird nämlich begonnen, eine Prothese anzupassen und mit dieser das Laufen zu lernen – in aller Regel wird das Bewegen im Sprunggelenk dann deutlich einfacher, wenn sich darunter eine Prothese befindet, die dem Fuss Gegendruck gibt.

Bis dahin fühlt sich Thomi Huber am wohlsten im Rollstuhl und beschränkt seinen Radius auf den geschützten Mikrokosmos des Spitals. «Hier hat jeder irgend etwas, irgend eine Behinderung, und ich falle gar nicht so auf. Hier akzeptieren mich alle so wie ich aussehe, und das macht dass auch ich selbst mich so akzeptiere», sagt er.

Wichtiges von Unwichtigem trennen

Ein riesiger Schock sei es zwar nicht gewesen, als er sein neues Bein zum ersten Mal gesehen habe, sagt er; schliesslich sah es nicht anders aus als er es sich vorgestellt hatte. Trotzdem habe er es anfänglich vermieden, in den Spiegel zu schauen.

«Zum Glück gibt es hier im Spital aber gar nicht so viele Spiegel, an denen ich vorbei muss, ausser den im Lift. Wenn ich es dann so sehe, denke ich schon ‹das sieht echt schräg aus› – und das tut es ja auch. Aber es hat gar keinen grossen Sinn da gross drüber zu reden, der Krebs musste raus und das war die beste Option die ich hatte. Anders wäre es gar nicht gegangen.»

Wenn ich mich im Spiegel sehe, denke ich schon ‹das sieht echt schräg aus› – und das tut es ja auch.

Zudem werden solche Sachen sowieso unwichtig wenn man bedenkt, dass noch gar nicht fest steht, dass sein Krebs wirklich geheilt ist. Zum Zeitpunkt der Operation wurden zwar noch keine Krebsableger in anderen Organen festgestellt, allerdings heisst das nicht sicher, dass sich keine gebildet haben. Erst über die nächsten Monate wird sich die tatsächliche Ausbreitung des Krebses zeigen.

Das beschäftigt Thomi Huber am meisten: «Angst vor dem Tod habe ich eigentlich keine, der gehört zum Leben dazu. Aber wenn ich bedenke, dass das hier meine letzte Zeit sein könnte, möchte ich vor allem eins: das Leben geniessen. Freude haben am Malen. Freude haben an den Menschen. Und mich nicht mit Unwichtigem aufhalten.» Er habe vor langem den Film «Born on the 4th of July» gesehen. «In dem kam ein Beinamputierter vor, der von allen recht runtergemacht wurde. Und ich fand das damals schon recht krass, fand den Typen aber auch irgendwie cool. Und das ist irgendwie das Bild, das ich jetzt von mir selber habe, wie es dann da draussen sein wird. Und das hilft mir irgendwie, glaube ich…»

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