Hand aufs Herz: Wenn wir von A nach B gelangen möchten, geht es oft darum, möglichst bequem und schnell vorwärtszukommen. Denn ob Kind oder Erwachsener: Das Laufen erscheint uns als unnötige Energieverschwendung. Was in unseren Genen liegt. Denn in grauer Vorzeit mit beschränktem Nahrungsangebot war es überlebensnotwendig, haushälterisch mit der eigenen Energie umzugehen.
Jedermann weiss, dass Gehen gesund ist. Es geht dabei aber um mehr als reines Wissen. Wir müssen der Tatsache ins Auge blicken, dass körperliche Aktivität in unserer Gesellschaft zu wenig gefördert wird.
Heutzutage ist dieser genetische Hang zum Faulenzen allerdings kontraproduktiv und nicht gesundheitsfördernd, weiss Olivia Braillard von der Abteilung für Hausarztmedizin am Universitätsspital Genf: «Dass körperliche Aktivität gut für die Gesundheit ist, ist nichts Neues. Jedermann weiss, dass Gehen gesund ist. Es geht dabei aber um mehr als reines Wissen. Wir müssen der Tatsache ins Auge blicken, dass körperliche Aktivität in unserer Gesellschaft zu wenig gefördert wird.»
Aber wenn schon nichts zur Bekämpfung des Bewegungsmangels getan wird, könnten wir uns nicht einfach selbst dazu motivieren, uns mehr zu bewegen? Um dieser Frage nachzugehen, wurde ein Versuch gestartet: Sechs Menschen verändern ihre Bewegungsroutinen und lassen sich dabei begleiten.
Véronique Ouédraogo, Angelo Preite, Dany Manta, Séverine Marzorati und das Ehepaar Anne-Marie und Steve Richard stellen sich der Herausforderung: Zum einen, verzichten sie auf Fahrstuhl und Rolltreppe und legen zum anderen sechs Monate lang mindestens 6'000 Schritte pro Tag zu Fuss zurück, wobei am Anfang und am Ende des Experiments ein Gesundheitscheck durchgeführt wird.
Laut WHO bedeutet aktiv sein 150 Minuten moderate und 75 Minuten intensive körperliche Aktivität pro Woche. Für Menschen, die ihr Leben vor allem sitzend verbringen, ist diese Vorgabe kaum erreichbar, erklärt Olivia Braillard: «Viele Menschen denken: ‹So viel muss ich schaffen, um einen gesundheitlichen Nutzen daraus zu ziehen›. Tatsächlich weiss man heute aber, dass sich auch nur ein kleines bisschen mehr an körperlicher Bewegung positiv auswirken kann.»
Die Krux dabei: Es ist unglaublich schwierig, seine Gewohnheiten zu ändern. «Da gibt es diese Stimme im Kopf, die sagt: ‹Zu Hause ist es doch am schönsten, da kann ich mich entspannen, auf dem Sofa sitzen, eine Serie schauen …›», bestätigt Séverine Marzorati.
Das Gehirn setzt ein Verhalten in Gang, wenn es dafür belohnt wird. Wenn wir unser Gehirn nicht daran gewöhnt haben, körperliche Aktivität oder Bewegung mit etwas Angenehmem zu verbinden, ist es sehr schwierig, dieses Verhalten anzukurbeln.
Wer oder was ist aber diese Stimme im Kopf? «Das Gehirn entscheidet, wann wir mit etwas anfangen und wann wir damit aufhören. Und das hängt alles mit unseren Gewohnheiten zusammen. Das heisst, das Gehirn setzt ein Verhalten in Gang, wenn es dafür belohnt wird. Wenn wir unser Gehirn nicht daran gewöhnt haben, körperliche Aktivität oder Bewegung mit etwas Angenehmem zu verbinden, ist es sehr schwierig, dieses Verhalten anzukurbeln», erklärt Jérôme Barral, Lehr- und Forschungsbeauftragter am Institut für Sportwissenschaften in Lausanne.
Eine ganze Reihe von Vorteilen
Besonders «tricky» wird es, wenn die Motivation nachlässt. Es kann herausfordernd sein, sich dann nicht entmutigen zu lassen, selbst wenn man sich der vielen Vorteile des Gehens bewusst ist.
Das Gehen hat einen positiven Effekt auf Muskeln, Gelenke, Knochen, das Herz-Kreislauf-System, die Verdauung und den Schlaf. Es hilft, Bluthochdruck, hohen Cholesterin, Übergewicht, Diabetes, Herzinfarkte, Lungenerkrankungen und einige Krebserkrankungen vorzubeugen.
Ganz zu schweigen von den unmittelbaren Auswirkungen auf das Wohlbefinden. Es bietet eine willkommene Pause vom Alltag, fördert die Bildung von Vitamin D, reduziert negative Gedanken, Angst und Wut und regt die Ausschüttung von Endorphinen an. Also von den Wohlfühlhormonen, die Stress und Depressionen entgegenwirken.
Ich freue mich, mithilfe dieses kleinen Schweisstropfens zeigen zu können: Ich habe meine ersten 10'000 Schritte geschafft. Die ersten 10'000 Schritte seit Beginn unseres Experiments.
Einige der genannten positiven Auswirkungen stellten sich bei den Teilnehmenden des Experiments sehr schnell ein: «Auch wenn es blöd klingt: Seit ich zu Fuss unterwegs bin, geht es mir besser. Ich habe weniger Rückenschmerzen, bin fitter und habe sogar Freude am Gehen gefunden», meint Anne-Marie Richard.
Und Dany Manta fügt hinzu: «Ich freue mich, mithilfe dieses kleinen Schweisstropfens zeigen zu können: Ich habe meine ersten 10'000 Schritte geschafft. Die ersten 10'000 Schritte seit Beginn unseres Versuchs. Ich bin wirklich sehr zufrieden mit mir, und es war erst noch cool, da ich es zusammen mit meiner Frau und meinen Kindern gemacht habe.»
Die Funktionsfähigkeit unseres Körpers und unserer Organe ist besser, wenn man sich regelmässig bewegt. Dabei ist jede Gelegenheit, sich zu bewegen, willkommen. Damit es zu einem Automatismus wird, muss man sich das immer wieder sagen. «Wenn ich jetzt in ein Geschäft gehe, schaue ich nach, ob es eine Treppe gibt. Diese Gewohnheit werde ich beibehalten. So kompliziert ist es letztlich gar nicht», sagt Véronique Ouédraogo.
Verbesserung des Stoffwechsels
Nach sechs Monaten regelmässigen Gehens stehen die Tests an. Und die Versuchsergebnisse sind vielversprechend. Bei sämtlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern zeigten sich Veränderungen in Bezug auf die körperliche Leistungsfähigkeit und den Stoffwechsel.
Véronique Ouédraogos Blutwerte, die schon zu Beginn des Versuchs ausserordentlich gut waren, blieben unverändert, wohingegen sie 2,5 kg weniger auf die Waage brachte. Anne-Marie Richard verzeichnete einen Rückgang ihres Cholesterinspiegels und nahm fast fünf Kilogramm ab. Angelo Preite konnte seine körperliche Leistungsfähigkeit steigern, während die Blutwerte stabil blieben. Steve Richard profitierte vom Versuch durch einen Gewichtsverlust von sechs Kilogramm und ein reduziertes Diabetesrisiko.
Ich habe daraus gelernt, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen enormen Einfluss auf ihre körperliche Leistungsfähigkeit und die Gesundheit haben.
Auch bei Séverine Marzorati zeigten sich bemerkenswerte Verbesserungen bei den Blutzuckerwerten. Beim Cholesterinspiegel, der schon zu Beginn sehr gut war, gab es eigentlich kein Verbesserungspotenzial. Und doch hatte er sich verändert: Beim guten Cholesterin konnte eine Zunahme und beim schlechten eine Abnahme verzeichnet werden. Auch Dany Manta konnte seinen Blutzuckerspiegel senken. Und auch wenn er die Versuchsziele insgesamt nicht erreichte, gelang es ihm, sechs Monate lang seine durchschnittliche tägliche Schrittzahl zu erhöhen, was sich wiederum positiv auf seinen Cholesterinspiegel auswirkte.
«Ich habe daraus gelernt, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen enormen Einfluss auf ihre körperliche Leistungsfähigkeit und die Gesundheit haben. Dies zeigte sich auch in Form von konkreten, messbaren Blutwerten. Daher ist es wichtig, dass wir die Teilnehmenden wie auch die Bevölkerung im Allgemeinen dazu auffordern: ‹Durch das Gehen können wir unsere Gesundheit wieder selbst in die Hand nehmen›», sagt Olivia Braillard.
Die sechs Geh-Freudigen stehen aber erst am Anfang: «Dies ist der Beginn unseres Abenteuers. Von jetzt an wird mehr zu Fuss gegangen», meint Angelo Preite zum Schluss.