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Gesundem Essen auf der Spur Welcher Ernährungsempfehlung können wir trauen?

Was gestern noch als gesund galt, macht heute angeblich krank. Bei der sogenannt «gesunden Ernährung» wird sich auch die Wissenschaft nicht einig. Das liegt an der Komplexität des Fachs. Warum es so schwer ist, Ernährungsstudien durchzuführen und Empfehlungen abzugeben. Und wo das doch funktioniert.

«Wer täglich eine Bratwurst isst, stirbt früher» ­­– die Schlagzeile liest Sabine Rohrmann während der Tramfahrt in einer Gratiszeitung. Andere Medien titeln an diesem Tag mit «Früher Tod durch zu viel Wurst» oder «Wurst verkürzt das Leben». Sabine Rohrmann weiss bestens, was hinter den Medienberichten steckt. Sie selbst hat die wissenschaftliche Studie veröffentlicht, die die Medien nun fleissig zitieren und interpretieren. 

Was in der Studie tatsächlich steht, klingt bei Weitem nicht so eingängig wie die Schlagzeilen. Von einem «moderat positiven Zusammenhang zwischen dem Konsum von verarbeitetem Fleisch und der Sterblichkeit» ist die Rede. Soll heissen: Diejenigen Probandinnen und Probanden, die viel verarbeitetes Fleisch gegessen hatten, starben im Schnitt etwas früher. 

Wir Ernährungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler müssen uns auch an die eigene Nase fassen.
Autor: Sabine Rohrmann Ernährungswissenschaftlerin und Epidemiologin

Aus Erfahrungen wie dieser vom März 2013 weiss die Ernährungswissenschaftlerin und Epidemiologin Sabine Rohrmann von der Universität Zürich: «Wenn Medien über Ernährungsstudien berichten, kommt das oft als konkrete Ernährungsempfehlung daher.» Dabei sei so eine Studie allein weder für Ernährungsempfehlungen geeignet noch gedacht. 

«Aber wir Ernährungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler müssen uns auch an die eigene Nase fassen», gibt Sabine Rohrmann zu. Schliesslich ist der Wunsch nach klaren, einfachen Ernährungsempfehlungen gross. Da können die vielen, teils widersprüchlichen Ergebnisse der Ernährungswissenschaft verunsichern.

Gesund- oder Krankmacher? 

Erst steht Kaffee im Verdacht, krebserregend zu sein. Dann soll er sogar vor gewissen Krebsarten schützen. Erst wird Eiern ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen nachgesagt. Dann doch nicht. Die Liste der Ungereimtheiten ist lang.  

«In der Vergangenheit haben sich Ernährungsempfehlungen immer wieder verändert», beobachtet Samuel Mettler, Ernährungswissenschaftler an der Berner Fachhochschule. Dass seine eigene Zunft deswegen unter Beschuss steht, sei durchaus nachvollziehbar.  

Krux der Ernährungswissenschaft 

Stellen Sie sich vor, dass reiner Zufall darüber entscheidet, ob Sie wöchentlich zehn Eier essen, sieben Tassen Kaffee oder vier Gläser Wein trinken. Oder: ob Sie sich strikt vegan ernähren – oder täglich Fleisch essen. Wohlgemerkt nicht für drei Wochen, sondern über Jahrzehnte. Genau das wäre nämlich nötig, damit Ernährungsstudien aussagekräftiger werden.  

Was weder praktikabel noch ethisch vertretbar klingt, ist in der Medizin längst Standard. Nehmen wir zum Beispiel ein neu entwickeltes Diabetesmedikament. Will man herausfinden, ob dieses besser wirkt als ein bisheriges, weist man Probandinnen und Probanden zufällig zwei vergleichbaren Gruppen zu: Eine Gruppe bekommt das neue Medikament – die andere das bisherige. 

Würden Ernährungswissenschaftlerinnen die gleiche Methode anwenden wollen, müssten sie Tausende Personen rein zufällig zu einem Speiseplan verdonnern. Dass das nicht geht, liegt auf der Hand. 

Hinzu kommt ein weiterer entscheidender Punkt: Werden in einer Studie zwei Medikamente miteinander verglichen, werden sie möglichst so verpackt und verabreicht, dass sie nicht voneinander zu unterscheiden sind. Im Idealfall wissen also weder die Probanden noch die Studienleiterinnen, wer welches Medikament erhält. 

Anders als Medikamente, lassen sich zwei unterschiedliche Lebensmittel aber allermeist nicht so verpacken, dass sie gleich daherkommen. Es gibt kein «Schein-Ei», das aussieht und schmeckt wie ein Ei, aber eigentlich aus Kichererbsen besteht. Die Studienteilnehmenden wissen also, ob sie das Ei essen – oder die Kichererbsen. Und wenn sie davon überzeugt sind, dass das die gesündere Variante ist, hat das auch seinen Effekt.

Beobachten statt vorschreiben 

Methoden, die in der Medizin als Goldstandard gelten, bleiben Ernährungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern also meist vorbehalten. Stattdessen führen sie oft sogenannte Beobachtungsstudien durch. Dabei schreiben sie den Studienteilnehmenden nicht vor, was sie zu essen haben. Sondern beobachten, wie sie sich normalerweise ernähren. 

In der Regel geben die Probandinnen und Probanden selbst an, wovon sie wie viel essen. «Dabei stellt man den Gemüsekonsum auch gerne mal besser dar und lässt das Schoggi-Stängeli weg», weiss Sabine Rohrmann. Oder man erinnert sich schlicht nicht mehr daran, wie viele Äpfel man im letzten halben Jahr gegessen hat.

Beobachtungen sind und bleiben Beobachtungen 

Je mehr Studienteilnehmende und je länger der Zeitraum, desto aussagekräftiger wird eine Beobachtungsstudie. Aber selbst eine gross angelegte Studie ist in ihrer Aussagekraft beschränkt. Denn Beobachtungsstudien zeigen nur Zusammenhänge auf. Dafür steht die Ernährungswissenschaft immer wieder in der Kritik. 

Beobachtungsstudien kommen immer mit einer gewissen Unsicherheit.
Autor: Sabine Rohrmann Ernährungswissenschaftlerin und Epidemiologin

Schliesslich lassen sich mit wissenschaftlichen Studien alle möglichen Zusammenhänge belegen: zum Beispiel den zwischen Schokoladekonsum und gewonnenen Nobelpreisen. Oder Anzahl Störchen und Geburtsraten. Was aber eben noch lange nicht heisst, dass man dank Schoggi-Essen zur Nobelpreisträgerin wird. Oder Störche Babys ausliefern.

Woher wissen wir trotzdem, dass Gemüse gesund ist? 

«Beobachtungsstudien kommen immer mit einer gewissen Unsicherheit», räumt Sabine Rohrmann ein. Gerade deshalb gehöre es auch zu ihrer Arbeit, diese Studien mit anderen zu vergleichen, in einen grösseren Kontext zu stellen und daraus Empfehlungen abzuleiten.  

Beobachtungsstudien sind also stets mit Vorsicht zu geniessen, gehören aber auch nicht aus Prinzip in den Papierkorb. Es gibt durchaus Zusammenhänge, die unter Fachleuten als gesichert gelten.  

Beim Gemüse zum Beispiel ist die Studienlage insgesamt einheitlich: Gemüse wirkt sich positiv auf unsere Gesundheit aus. Die Wirkung lässt sich durch die darin enthaltenen Vitamine, Mineral- und Ballaststoffe erklären. Hier lassen sich also Empfehlungen ableiten.

Die Rolle von Zell- und Tierversuchen

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Wenn die Mehrheit der Beobachtungsstudien auf den gleichen Effekt hindeuten, ist das ein guter Hinweis. Weitere Hinweise können Zell- und Tierversuche im Labor liefern. «Aber kein Experiment bildet das menschliche System vollständig ab», warnt der emeritierte Professor der Universität Paderborn Helmut Heseker. Das Potenzial für Fehlinterpretationen sei daher besonders hoch. 

Die Ergebnisse aus Tierversuchen lassen sich nur sehr bedingt auf den Menschen übertragen. «Das liegt unter anderem daran, dass sich zum Beispiel Mäuse und Menschen in ihrer Lebenserwartung, ihrem Immun-, Nervensystem und Mikrobiom stark unterscheiden», so Helmut Heseker. Dennoch können Laborversuche zugrundeliegende Wirkmechanismen entschlüsseln. Und damit zu unserem Verständnis beitragen.

Wie können wir uns jetzt aber im Dschungel der Ernährungsempfehlungen zurechtfinden? Welche sind nur gut verkauft? Und welche sind tatsächlich vertrauenswürdig? 

Je weniger schlagkräftig, desto vertrauenswürdiger 

«Viele Ernährungsempfehlungen sind sehr gewagt», bemängelt Samuel Mettler. Schliesslich basieren sie oft auf einer unsicheren Datengrundlage. «Diese Unsicherheit wird in der Kommunikation teils zu wenig berücksichtigt und ist gleichzeitig Grund dafür, dass sich Empfehlungen später wieder ändern.»    

Zudem stelle sich die Frage, wie spezifisch Ernährungsempfehlungen formuliert werden sollten. «Fünf Portionen Gemüse und Früchte zu empfehlen, ist sicher vertretbar», so der Ernährungswissenschaftler. «Aber die Zahl ‘fünf’ ist dabei vermutlich nicht matchentscheidend, sondern eher als Grössenordnung  zu verstehen.» 

Letztlich hängen Ernährungsempfehlungen auch stark davon ab, welche Zielgrössen man in den Vordergrund stellt: Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorbeugen? Diabetes? Krebs? «Hätte man bei der Schweizer Lebensmittelpyramide beispielsweise den Aspekt des Muskelerhalts ab dem mittleren Lebensalter mitberücksichtigt, müsste man eine höhere und qualitativere Proteinzufuhr empfehlen», gibt Samuel Mettler zu bedenken.

Unterschiedliche Länder – unterschiedliche Empfehlungen 

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Ernährungsempfehlungen berücksichtigen neben der Studienlage auch die landestypischen Essgewohnheiten. «Es macht keinen Sinn, dass wir in der Schweiz allzu grosse Mengen an Hülsenfrüchten empfehlen», nennt Sabine Rohrmann als Beispiel. Denn damit Empfehlungen von der Bevölkerung akzeptiert werden, dürfen sie den Gewohnheiten nicht zu stark widersprechen.

Auch die Verfügbarkeit der Lebensmittel unterscheidet sich von Land zu Land. «Früher gab es hier Joghurt nur im 180-Gramm-Becher. Da wäre es sinnlos gewesen, andere Mengen zu empfehlen», erinnert sich Esther Infanger. Sie ist Ernährungswissenschaftlerin und hat nun bereits zum dritten Mal bei der Ausarbeitung der Schweizer Lebensmittelpyramide mitgewirkt.

Dass sich Empfehlungen zwischen Ländern unterscheiden, müsse so sein. Und darf es auch. «Eine gesunde Ernährung, die alle Nährstoffe abdeckt, erreichen wir auf unzählig viele Arten», sagt Esther Infanger. Dass Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern mit den unterschiedlichsten Ernährungsgewohnheiten gesund altern, sei der beste Beweis dafür.

Fazit: Die Auswirkungen genereller Ernährungsmuster lassen sich besser belegen als die Effekte einzelner Lebensmittel. Daher ist zum Beispiel eine Empfehlung für eine mediterrane Ernährung sinnvoller als einzelne Lebensmittel zum Superfood zu erküren – oder zu verteufeln. Dass ein einziges Lebensmittel Diabetes oder Krebs verursacht, ist unwahrscheinlich.  

Und so verlieren wir auch kaum mit jeder Wurst an Lebensjahren.

Puls, 07.04.2025, 21:05 Uhr

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