Am Freitagabend gemütlich in einer Bar sitzen. Mit Freundinnen und Freunden quatschen und dabei ein Gläschen Rotwein trinken. Soll in moderaten Mengen völlig in Ordnung sein, ja sogar gesund.
Tatsächlich gab es in den 1980er und 1990er Jahren diverse Studien, die bewiesen haben wollen, dass Alkohol in moderaten Mengen gesund sei. Insbesondere der Rotwein habe seine gesundheitlichen Vorteile: Die in der roten Traube enthaltenen Polyphenole seien gesund für den Herzkreislauf. So zumindest einige wissenschaftliche Artikel.
Es folgte eine Erwähnung des gern gehörten Forschungsresultats im amerikanischen Fernsehen. Und die Verkaufszahlen des Rotweins schnellten in den Vereinigten Staaten in die Höhe.
Mehr Schein als Sein: die Alkoholstudien
Dass ein Gläschen Wein am Tag gesund ist, ist ein Mythos. Also nicht wahr. Denn die einschlägigen Studien zum angeblich gesunden Alkoholkonsum hatten zentrale methodische Mängel, wie Forschende kürzlich in einem Fachartikel zeigten.
Man könnte nun annehmen, dass der Mythos des gesunden moderaten Alkoholkonsums einfach den damaligen Forschungsmethoden geschuldet war. Und dass es Zeit und mehr Forschung brauchte, bis er entlarvt werden konnte.
Doch so simpel ist es nicht. Schon damals, als die Studien erschienen, gab es kritische Stimmen aus der Wissenschaftsgemeinschaft. Unter anderem, weil Vertreter der Alkoholindustrie einige der Studien mitfinanzierten. Und weil einzelne Forschende schon damals die methodischen Mängel der Studien erkannten.
Es stellt sich also die Frage: Wie kann es sein, dass sich eine Fehlinformation so lange hält, die schon vor Jahrzehnten berechtigt angezweifelt wurde? Immerhin finden sich auch in der Schweizer Medienlandschaft diverse Artikel, die den Mythos des gesunden Rotweins entlarvt haben. Manche dieser Artikel sind bald 10 Jahre alt. Andere noch älter.
Glauben, was man glauben will
Auf die Frage, warum der Mythos des gesunden Rotweins einfach nicht aus unseren Köpfen verschwindet, hat Sabrina Heike Kessler eine Antwort. Sie forscht am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich und befasst sich intensiv mit Gesundheitsmythen. «Wahrscheinlich hört und liest man eben beides: Mal ist Alkohol ein Gift. Mal ist Alkohol ein Heilmittel.»
Denn eben: Die in den roten Trauben enthaltenen Polyphenole können sich tatsächlich positiv auf die Gesundheit auswirken. Nur enthält der Rotwein Alkohol. Und die negativen Effekte des Alkohols können überwiegen. Gemäss der WHO spielt der Alkoholkonsum eine Rolle bei der Entstehung von über 200 Krankheiten, Verletzungen und anderen gesundheitlichen Problemen.
«Was am Ende zählt, ist, was hängenbleibt,» so Sabrina Heike Kessler. «Und Menschen neigen psychologisch dazu, sich das zu merken und weiterzuerzählen, was ihre Überzeugungen bestätigt.»
Sprich: Wer schon davon überzeugt ist, dass Wein gesund ist, der merkt sich eben lieber die Schlagzeile, dass Wein gut fürs Herz sein kann. Blendet die negativen Seiten des Alkohols aus. Und berichtet in geselliger Runde – bei einem Gläschen Rotwein – von den Polyphenolen.
Na, welches Gemüse enthält besonders viel Eisen?
Dass Gesundheitsmythen durch fehlerhafte Forschung entstehen, kommt vor. Tatsächlich geistern viele unterdessen widerlegte Gesundheitsinformationen durch unsere Köpfe, die ihren Ursprung in der Wissenschaft fanden.
Wenn ich Sie fragen würde, welches Gemüse besonders viel Eisen enthält, was würden Sie dann antworten? Fällt Ihnen als Erstes der Spinat ein? Dann sind sie einem Gesundheitsmythos auf den Leim gegangen. Entstanden ist er durch eine wissenschaftliche Publikation aus den 1930er Jahren, welche den Eisengehalt im Spinat scheinbar um das 20-fache überschätzte. Und diverse darauf aufbauende Spinnereien.
Viele Wege führen zum Gesundheitsmythos
Aber Gesundheitsmythen entstehen nicht immer in der Wissenschaft, erklärt Sabrina Heike Kessler. «Medien und PR-Kampagnen vereinfachen oft komplexe Sachverhalte, was zu Missverständnissen beim Publikum führen kann.» Eine komplette wissenschaftliche Studie in einer griffigen Headline zusammengefasst, bildet eben nicht immer die ganze Wahrheit ab.
«Es gibt aber auch die gezielte Erstellung und Verbreitung der Mythen», so die Forscherin. «Unternehmen oder Interessengruppen können absichtlich Fehlinformationen verbreiten, was dann zur Entstehung von Mythen beiträgt. Etwa um eigene Produkte oder Dienstleistungen zu fördern.» Besonders einfach sei das heute via Social Media. Auf Facebook, Instagram, Tiktok und Co. können sich die Mythen hübsch aufbereitet wie ein Lauffeuer verbreiten.
Niemand ist vor den Mythen sicher
Die Frage, ob sie schon auf einen Gesundheitsmythos hereingefallen ist, bejaht Expertin Sabrina Heike Kessler. Und auch Viviane Scherenberg, Gesundheitswissenschaftlerin an der Apollon Hochschule der Gesundheitswirtschaft in Bremen, sieht sich da nicht als Ausnahme: «Wir Forschenden sind auch nicht davor gefeit, solchen Mythen auf den Leim zu gehen.»
Letztes Jahr veröffentlichte Viviane Scherenberg eine Studie, in der sie zeigt, dass Gesundheitsmythen nicht nur ein Laienproblem sind. Mittels Online-Umfrage zeigte sie, dass auch Menschen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, auf die Fehlinformationen hereinfallen. Darunter Ärztinnen und Ärzte sowie Sanitäterinnen und Sanitäter. «Das ist vollkommen menschlich und hat psychologische Hintergründe», so Scherenberg.
Irren ist menschlich
Die Gesundheitswissenschaftlerin listet in ihrer Publikation eine Reihe an psychologischen Phänomenen auf, die dazu beitragen, dass wir die Gesundheitsmythen nicht aus unseren Köpfen kriegen. Etwa den oben erwähnten Bestätigungsfehler, wonach wir eher glauben und uns das merken, was wir eh schon für wahr halten.
Gesundheitsmythen halten sich hartnäckig, weil sie eine einfache Erklärung bieten. Sie werden oft wiederholt und haben auch eine emotionale Anziehungskraft.
Dieser Bestätigungsfehler ist gerade bei Gesundheitsmythen ein Problem, so Sabrina Heike Kessler: «Gesundheitsmythen halten sich hartnäckig, weil sie eine einfache Erklärung bieten. Sie werden oft wiederholt und haben auch eine emotionale Anziehungskraft». Je länger wir einem Falschglauben aufsitzen, desto mehr werde er ins Gedächtnis integriert – und desto schwieriger sei es, diesen wieder loszuwerden oder zu verändern, so die Expertin.
Auch der psychologische Scheinwahrheitseffekt hilft da nicht: Je öfter wir eine Information hören, desto eher schätzen wir sie als richtig ein. Hören wir also einen Mythos immer und immer wieder, erscheint er uns immer vertrauter und damit wahrer. Auch wenn er als Mythos gekennzeichnet ist.
Gesundheitsmythen als Familientradition
Letztlich sei es auch kein Zufall, dass es gerade im Gesundheitsbereich so viele hartnäckige Wissenschaftsmythen gebe, sagt Kessler. «Dass Menschen insbesondere bei Gesundheitsfragen an Mythen glauben, erklärt sich mitunter am menschlichen Wunsch, gesund zu sein, zu bleiben und werden zu wollen.» Der Mensch sei evolutionär darauf angelegt, mit der eigenen Gesundheit nicht zu experimentieren. Sondern sich auf das zu verlassen, was andere denken, empfehlen und tun. So werden die Gesundheitsmythen auch Mund-zu-Mund über Generationen hinweg weitergegeben und in kulturelle Traditionen eingebettet.
Ein Problem ist das nicht zwingend. Spinat ist so oder so gesund. Egal ob man ihn wegen des hohen Eisengehalts isst, oder aus anderen Gründen.
Doch das ist nicht immer so. Beim Wein zum Beispiel kann der Glaube an den Mythos des gesunden Gläschens die eigene Gesundheit gefährden. Aber woher wissen wir eigentlich, wann wir es möglicherweise mit einem Gesundheitsmythos zu tun haben – und entsprechend vorsichtig sein müssen?
Augen auf beim Browsen: Tipps gegen Gesundheitsmythen
«Wir leben in einer unheimlich schnelllebigen Welt. Mein Tipp wäre: erstmal innehalten», empfiehlt Gesundheitswissenschaftlerin Viviane Scherenberg. Insbesondere bei Heilsbotschaften, die kurzfristige Erfolge versprechen, müsse man vorsichtig sein.
Für das kritische Hinterfragen plädiert auch Sabrina Heike Kessler von der Universität Zürich. So könne man sich etwa fragen: Wer hat die Information geteilt? Hat diese Person vielleicht finanzielle Interessen? Und wer verbreitet diese Information sonst noch?
Ein eigener Faktencheck sei aber nicht immer nötig und auch nicht immer möglich, findet die Forscherin. Die gute Nachricht: «Wir haben im Prinzip jemanden, der uns diese Arbeit abnimmt. Das sind Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten, die überprüfen: Wie gut ist eine wissenschaftliche Studie?».
Ein anderer Kontrollmechanismus sind die Forschenden selbst. Denn in der Wissenschaft gehört es zur Suche nach Antworten dazu, dass bisherige Resultate widerlegt werden. Die Forschungsmethoden werden mit der Zeit besser, Fehler werden ausgemerzt. Kein Wunder also, dass auf dem Weg zur Wahrheit immer wieder Gesundheitsmythen entstehen. Die dann eines Tages durch neuere, bessere Studien widerlegt werden.