Zögerlich drückt die Patientin am Klavier auf die Tasten. Tiefe Töne erklingen und vermischen sich. Dazwischen schlägt ihre Therapeutin mit harten Faustschlägen auf die obersten Tasten der Klaviatur.
Was wie postmoderne Musik klingt, ist in Wahrheit ein Experiment: Anna Katharina Müller soll ihre chronischen Schmerzen vertonen.
«Schmerzen sind normalerweise immer im Patienten drin, sie lassen sich nur schlecht nach aussen zeigen. Mit dem Klang haben die Patienten eine Möglichkeit, sich auszudrücken», erklärt die Ärztin und Konzertpianistin Andrea Meier.
Anna Katharina Müller hat bereits eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Angefangen hat alles vor 14 Jahren mit einer Diskushernie. Nach verschiedenen Operationen, einem weiteren Bandscheibenvorfall und einem gebrochenen Rückenwirbel gingen die Schmerzen nicht mehr weg. Sie bestimmen bis heute ihren Alltag – sie haben sich chronifiziert. Die Beschwerden haben sich sogar mit der Zeit verstärkt und auf andere Teile im Körper ausgebreitet.
Schmerz als Klang
Nach den ersten Klangversuchen greift Müller immer bestimmter in die Tasten. Aus dem Klavier erklingen stechende, laute und hohe Töne, unterlegt von einem Teppich mit tiefen Bassklängen.
Aus den mittleren Lagen ertönen sich wiederholende Klangmuster. «Ich merkte, dass ich mit der Musik ganz viel aussagen konnte. Es wirkte irgendwie befreiend», sagt Anna Katharina Müller.
Mit offenen Ohren hört sich auch der Psychosomatiker Niklaus Egloff die «Vertonung» an. Er hat zusammen mit der Pianistin und Ärztin Andrea Meier das Experiment am Inselspital Bern ins Leben gerufen: «Natürlich ist dieses Vertonungsexperiment nicht ein fixer Bestandteil unserer Schmerztherapie, aber es zeigt Nichtbetroffenen eindrücklich, was ein Patient mit einer Schmerzkrankheit zu ertragen hat.»
Schmerz als Bild
Neben dem Vertonungsexperiment versucht Egloff, auch auf der visuellen Ebene Dinge auszuprobieren. Zusammen mit der Grafikerin Sabine Affolter testet er die sogenannte Dolorografie. 80 Karten mit abstrakten visuellen Mustern sollen dem Patienten helfen, Schmerzen visuell auszudrücken.
Dabei wählt der Patient selber verschiedene Karten aus, die aus seiner Sicht die Schmerzen illustrieren. Diese Muster werden dann zusammen mit der Grafikerin in einem Körpermodell an den entsprechenden Stellen lokalisiert.
«Auch die Dolorografie ist ein Experiment. Aber wir erhalten durch die zusätzlichen Informationen ein besseres Bild, wie die Patienten Schmerzen wahrnehmen und spüren», sagt Egloff. Es zeige eben auch, wie schwierig es heute noch ist, Schmerz greifbar zu machen. Viele kennen vielleicht die Schmerzskala von eins bis zehn, mit der viele Spitäler arbeiten. Doch eine vier beispielsweise muss für zwei verschiedenen Personen nicht das Gleiche bedeuten.
Das beweist auch die sogenannte Algometrie, mit der sich sehr genau die Schmerzempfindlichkeit von Patienten messen lässt. Mit einem Messgerät drückt man auf die Fingerspitze des Patienten. Sobald der Patient reagiert und mitteilt, dass es ihm weh tut, stoppt man den Druck.
Die Werte zeigen eindrückliche Unterschiede, erklärt Egloff: «Wenn wir die Werte mit gesunden Menschen vergleichen, stellen wir fest, dass Patienten mit chronischen Schmerzen mit der Zeit empfindlicher werden und den gleichen Druck schmerzhafter bewerten.» Mit diesen Werten lässt sich feststellen, inwiefern sich ein Schmerz in eine eigenständige Schmerzkrankheit verwandelt hat.
Schmerz im App
Trotzdem bleiben Schmerzen immer subjektiv. Dieser Fakt hat auch Daniel Lawniczak vor ein paar Jahren auf den Plan gerufen. Der junge Informatiker leidet selber an chronischen Schmerzen. Er entwickelte eine App namens CatchMyPain, mit der sich Schmerzen besser objektivieren lassen. Ähnlich wie mit einem analogen Schmerztagebuch, das man in der Schmerztherapie seit Langem kennt, können mit der App die Schmerzen digital erfasst werden.
Auf einem Körpermodell lassen sich mit verschiedenen Farben die schmerzenden Orte eintragen. Gleichzeitig erfasst der Patient Gemütszustand, Müdigkeit und Stresslevel. So lassen sich Schmerzen über einen längeren Zeitraum systematisch erfassen. Die App generiert dann eine Kurve der Schmerzen und des Wohlbefindens. «Mir hat die Visualisierung sehr geholfen, wenn ich mit den Ärzten über meine Schmerzen gesprochen habe. Ich fühlte mich besser verstanden», sagt Lawniczak.
Zudem habe die App eine Funktion, mit der sich ein User mit anderen Schmerzpatienten im Web austauschen könne. «Das war sehr wertvoll, ich fühlte mich nicht mehr alleine», erzählt Lawniczak.
Das junge Start-up hat auch das Interesse von Niklaus Egloff am Inselspital Bern geweckt. Lawniczak und der Arzt planen, die App weiterzuentwickeln. Die beiden erhoffen sich so, dass Patienten schon bald ein weiteres Instrument bekommen, den Schmerzen auf den Grund zu gehen.