Ein normaler Mensch denkt 15 Mal pro Tag an Sex. Ein Sexsüchtiger 15 Mal pro Stunde. Dies behauptet der Film «Thanks for sharing» (ab Donnerstag im Kino). Sein Thema: Sexsucht. In Amerika ist das Phänomen inzwischen weit verbreitet. Sogar spezielle Entzugskliniken gibt es. Hierzulande ist das Thema jedoch scheinbar inexistent – oder einfach tabu?
Die Sexsucht zeigt sich in unterschiedlichen Formen. Eine davon ist die Online-Pornosucht. «Diese ist ein Problem», weiss der Psychotherapeut Franz Eidenbenz aufgrund seiner Erfahrungen in der Praxis. Verlässliche Zahlen, wie viele Menschen davon betroffen sind, gibt es zwar keine. Aber der Online-Suchtexperte Eidenbenz geht von einer beträchtlichen Dunkelziffer aus. Forschungsgelder gebe es kaum. «Vielleicht will man es nicht wissen», spekuliert er, «weil sich mit dem Online-Pornogeschäft viel Geld verdienen lässt.»
Warum ist Sexsucht ein Tabu?
Kommt hinzu: Bei keinen Umfragen wird so viel geschwindelt wie bei jenen über Sexualität. Wir reden zwar ständig darüber, betrifft es uns jedoch selber, schweigen wir verschämt. Warum eigentlich? Im Zürcher «Mannebüro» kommt die Antwort fix: «Weil es völlig unmännlich wäre. Die Männer gestehen selbst dem besten Freund nicht ein, dass sie sich vor dem Bildschirm selbst befriedigen, weil sie zu scheu sind, eine Frau anzusprechen», sagt Martin Bachmann, der im Mannebüro Männer mit sexuellen Nöten berät.
Wann wird Sex zum Problem?
Egal, ob ein Mann sich Sex in der realen Welt holt oder als Online-Porno: Problematisch wird es, wenn der Betroffene sich fremdgesteuert fühlt und unter seinem Verhalten leidet. «Soziale Kontakte, insbesondere in Paarbeziehungen, werden vernachlässigt», so Therapeut Eidenbenz, und: «Das berufliche Engagement leidet aufgrund des oft nächtlichen exzessiven Pornokonsums.»
Was das heisst, weiss Gilles, langjähriges Mitglied der Anonymen Sexaholiker. Für ihn waren es die Besuche bei der Prostituierten, die er nicht mehr kontrollieren konnte. Das Verlangen nach Sex, das ihn trotz intakter Ehe permanent umgetrieben habe, so dass er sich auf nichts anderes konzentrieren konnte: «Am Ende kann man nicht anders, als es durchzuziehen. Es geht um den Kick, mit dem man emotionale Probleme verdrängt. Danach fühlt man sich aber leer und schuldig. Das Ganze ist beziehungslos und das macht einen kaputt.»
Pornografie nicht verteufeln
Was wir als zuträglich empfinden, steht immer auch im Kontext einer Kultur. Moralische Vorstellungen hindern uns am Genuss. «Wir haben die Tendenz, aus allem eine Krankheit zu machen», gibt Sexcoach Maggie Tapert zu bedenken. Die Pornografie sei nicht das Problem, diese sei bloss ein Werkzeug, das man ge- und missbrauchen kann.
Und doch: Der fokussierte, häufige Konsum pornografischer Bilder oder Szenen bleibt möglicherweise nicht ohne Folgen. «Der Reiz nützt sich mit dem häufigen Konsum ab. Es braucht etwas Zusätzliches, Neues, um in Erregung zu geraten», erklärt die klinische Sexologin Esther Schütz. Was man sich online abhole, könne man dann in der realen Welt aber kaum umsetzen. Der Kick bleibt aus. «Deshalb wird es immer schwieriger, im wirklichen Leben sexuell bestehen zu können.»
Mann ist nicht Frau
Eine Abhängigkeit von Online-Pornografie betrifft gemäss Schütz eher Männer. Diese seien grundsätzlich visuell ausgerichtet, weshalb der Reiz pornografischer Bilder für den Mann grösser sei. «Die Frau hingegen funktioniert eher emotional. Viele Frauen stolpern darüber, dass sie Romantikromane und Romantikfilme konsumieren. Damit entstehen ungemein hohe Erwartungen, die ein Mann gar nie auf diese Weise erfüllen kann», sagt Sexologin Schütz.
Kann man daraus folgern, dass der Mann sich deshalb dem Online-Porno zuwendet, weil er den übersteigerten Erwartungen der Frau nicht genügen kann oder will? Unterschreiben mag Schütz diese These nicht, «aber», sagt sie, «es ist heute so, dass er oder sie sich jederzeit selbst befriedigen kann und dabei individuelle Reize genutzt werden. Eine zentrale Erregungsquelle ist für den Mann das Visuelle, und das findet sich im Netz.»
Grund also, die Alarmglocken zu läuten? Was die Sexsucht angeht, so existiert sie als klinische Diagnose nicht. Was richtig und wichtig sei, sind sich die Experten einig, da sonst die Gefahr bestünde, dass die Sexualität stigmatisiert wird. Und das will am Ende ja wohl niemand.