Neue Wirkstoffe haben die Behandlung von Krebs in den letzten 20 Jahren umgekrempelt. Die klassische Chemotherapie verliert an Bedeutung. Neuentwicklungen sind entweder Immuntherapeutika – Wirkstoffe also, die am Immunsystem von Krebskranken ansetzen. Oder es sind sogenannte zielgerichtete Therapien. Diese nutzen aus, dass ein Tumor andere molekulare Merkmale aufweist als gesunde Körperzellen.
Dieser schnelle Wandel hat Folgen, sagt Benjamin Kasenda, Onkologe und leitender Arzt am Universitätsspital Basel: «Der sogenannte Off-Label-Use wird dadurch in der Krebstherapie immer häufiger.» Bei 20 bis 30 Prozent der Patienten komme im Lauf der Therapie der Punkt, an dem ihnen ein Medikament Off-Label, das heisst: ausserhalb der regulären Zulassung vorgeschlagen werde.
Allerdings lässt sich kaum voraussagen, ob eine Versicherung ein solches Medikament dann auch bezahlt. Ein Viertel der Gesuche wird nicht gutgeheissen, stellte ein Bericht des Bundesamtes für Gesundheit BAG fest. Für Benjamin Kasenda ist die bisherige Praxis stossend: «Wie die Vertrauensärzte von Versicherungen im Einzelfall urteilen, hat nichts mit der Evidenz des Wirkstoffs zu tun.» Sondern sei oft beliebig. Zu diesem Schluss kommen Kasenda und seine Kollegen in einer Studie, in der sie Daten zum Off-Label-Use aus drei grossen Schweizer Spitälern untersucht haben.
Was geht da schief?
Thomas Cerny war bis 2017 Chef-Onkologe am Kantonsspital St. Gallen; er hat die Krebsmedizin in der Schweiz geprägt, hat viele Jahre Erfahrung. Dass Entscheidungen bei den Off-Label-Medikamenten ziemlich zufällig gefällt werden, hat laut Cerny System: «In der Schweiz hat jede der rund 60 Krankenversicherungen ihre eigenen Vertrauensärzte – der eine ein Chirurg, der andere vielleicht Kinderarzt –, und die müssen dann diese innovativen Therapien beurteilen, die nicht zu ihrem Fachgebiet gehören.» Das habe dazu geführt, dass Entscheide in gleichen Situationen «sehr unterschiedlich» ausgefallen seien.
Doch jetzt tut sich etwas: Die Krankenkassen haben unter der Federführung des Branchen-Verbands Curafutura eine digitale Plattform aufgesetzt, eine Kombination aus Studien-Datenbank und fachlichem Netzwerk. Diese Plattform soll es den Vertrauensärzten leichter machen, den klinischen Nutzen eines neuen Wirkstoffs sauber abzuschätzen.
Dadurch hätten Patienten laut Thomas Cerny «eine viel höhere Chance, dass sie gleich behandelt werden und schneller eine Antwort bekommen, ob sie die für sie lebenswichtige Therapie bezahlt bekommen oder nicht.» Für Thomas Cerny ist die Initiative der Versicherungen ein «Schritt in die richtige Richtung.»
Eine Plattform für alle
Für Benjamin Kasenda ist es zu wenig: «Das Problem ist, dass auf diese Plattform nur die Vertrauensärzte zugreifen, nicht aber diejenigen, welche die Medikamente den Patienten verschreiben wollen.» Kasenda findet, eine solche Plattform sollte viel offener sein und allen Beteiligten offenstehen: nebst den Vertrauensärzten auch den verschreibenden Ärztinnen und Ärzten, den Krankenkassen sowie den Firmen. So werde es zum Beispiel in Holland praktiziert.
Neue Medikamente ohne Verzug und ohne umständliche Behörden-Umwege bei den Patientinnen einzusetzen, denen sie nützen könnten: Das wünscht sich Benjamin Kasenda für die Zukunft. Dann wäre Off-Label nicht mehr Off-Label, sondern das neue Normal.