Zu Beginn der Schullaufbahn sind die ersten Schreibversuche mitsamt ihren Schreibfehlern noch reizend – und völlig normal. Doch nicht alle Schüler verinnerlichen die Rechtschreibung nach und nach. Sie kämpfen selbst als Erwachsene noch mit dem Lesen und Schreiben. Das ist keine Frage des Willens oder der Intelligenz, sondern eine Wahrnehmungsstörung, der Dyslexie oder Legasthenie.
Die Störung schränkt Betroffene ein ganzes Leben lang ein, denn Schule und Berufsbildung bauen auf Schriftlichkeit auf. Mündliche Leistungen zählen weniger. Das Paradebeispiel sind Diktate, in denen es ausschliesslich auf die Rechtschreibung ankommt. Je stärker Laut- und Schriftsprache voneinander abweichen, desto häufiger tritt die Legasthenie auf.
Die Folge das Handicaps: Legastheniker haben bei gleicher Intelligenz meist schlechtere Ausbildungschancen und weniger Möglichkeiten, ihre Stärken auszubauen. Das belastet wiederum die Psyche. Für die fünf Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung, die betroffen sind, ist es deshalb besonders wichtig, trotz ihrer Legasthenie ein gutes Selbstbewusstsein aufzubauen und ihre Talente zu kennen.
Ursachen, Symptome und Diagnose
Die moderne Hirnforschung belegt: Legasthenie hat neurobiologische Ursachen. Die Wahrnehmungsstörung ist letztlich genetisch bedingt. Vereinfacht erklärt: Das Gehirn eines Legasthenikers bringt gelesene Buchstaben und gehörte Laute nicht richtig zusammen. Fachleute sprechen von Problemen mit der «phonologischen Bewusstheit». Leidet ein Elternteil daran, haben Söhne ein Dyslexie-Risiko von 50 Prozent, Töchter eines von 25 Prozent. Eltern, die selbst betroffen sind, sollten ihre Kinder deshalb besonders genau beobachten.
Frühe Symptome, anhand derer sich zu 100 Prozent auf eine Lese- und Rechtschreibstörung schliessen lässt, gibt es jedoch nicht. Die Ausprägung einer Legasthenie ist unterschiedlich und selbst die Fehler, die Betroffene machen, sind nicht aussergewöhnlich, sondern entsprechen denen aller Schreib- und Leseanfänger. Einziger Unterschied: Die Probleme bleiben hartnäckig bestehen. Bei folgenden Symptomen sollten Eltern aber aufmerksam werden:
- Bereits im Vorschulalter: Mühe, Reime zu bilden oder zu erkennen, einzelne Laute eines Worts herauszuhören oder zu bestimmen, mit welchem Buchstaben ein Wort beginnt.
- Rechtschreibung: Verwechslungen (d-t, g-k) und Verdrehen von Buchstaben (b-d, p-q); Auslassen, Umstellen oder falsches Einfügen von Buchstaben und Wortteilen; Dehnungsfehler; Fehler in der Gross- und Kleinschreibung; Fehlerinkonstanz: Ein Wort wird immer wieder anders falsch geschrieben; sehr viele Fehler in unvorbereiteten Diktaten.
- Lesen: Startschwierigkeiten beim Vorlesen; langsames Lesetempo; Auslassen, Ersetzen, Verdrehen, Vertauschen oder Hinzufügen von Wörtern oder Wortteilen.
Die Legasthenie-Diagnose stützt sich auf Kriterien der Weltgesundheits-Organisation WHO (ICD-10). Die zentralen Merkmale sind eine ungenügende Rechtschreibung und/oder Lesefertigkeit bei normaler Intelligenz. Standardisierte Tests sollen die Diskrepanz zwischen Intelligenz und Lese-Rechtschreib-Schwächen ermitteln. Schulpsychologische Dienste, Logopädinnen, aber auch Universitätskliniken führen die Untersuchungen durch. Während der obligatorischen Schulzeit bis maximal zum 20. Altersjahr sind Abklärung und Therapie kostenlos (gilt nicht für Spezialanbieter).
Legasthenie-Therapie
Legasthenie ist nicht heilbar, aber Lesen und Schreiben lassen sich trainieren. Eine solche Therapie muss strukturiert und mit geeigneten Methoden erfolgen. Angebote gibt es bei der heilpädagogische Förderung und Lernberatung in der Schule, bei privaten Lernzentren/Lerntherapeuten, Fachleuten aus Logopädie, Heilpädagogen oder Psychologen.
Mit Hilfsmittel das Leben einfacher machen
Verschiedenste Hilfsmittel erleichtern den Umgang mit einer Legasthenie. Eine klare Schriftart, gute Gliederung der Texte oder der Ausdruck auf farbigem Papier statt auf weissem können das Lesen erleichtern. Scanner-Stifte, Fotoapparate und Diktiergeräte können das mühsame Abschreiben ersetzen. Darüber hinaus können hilfreiche Computer-Softwares mit Spracherkennung, akustischer Umwandlung von Texten oder Korrekturprogramme das Leben, Lernen oder Arbeiten erleichtern. Wichtig ist es, die eigenen Probleme gut zu kennen, also möglichst genau zu wissen, wann und wie genau die Legasthenie am meisten Mühe bereitet.
Offiziell als Handicap anerkannt
Legastheniker haben einen Anspruch auf gewisse Anpassungen im Unterricht und bei Prüfungen. Dieser «Nachteilsausgleich» stützt sich auf die Bundesverfassung und kantonale Richtlinien. Der Grundsatz: Legasthenie gilt als Behinderung. Betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene sollen nicht allein wegen ihres Handicaps schlechtere Chancen haben. Die Massnahmen sind individuell festzulegen. Beispiele: mehr Zeit in schriftlichen Prüfungen, stärkere Gewichtung mündlicher Leistungen, Verwendung von Hilfsmitteln, keine benoteten Diktate. Je nach Schule und Kanton ist der Nachteilsausgleich inzwischen mehr oder weniger Routine. Eltern müssen sich jedoch aktiv darum bemühen.