Der Ausdruck «evidenzbasierte Medizin» ist ausserhalb von Fachkreisen kaum geläufig. Dabei bezeichnet er etwas, das für viele Patientinnen und Patienten selbstverständlich ist: dass ihr Arzt oder ihre Ärztin nur Therapien, Medikamenten und Tests empfiehlt, die wissenschaftlich auf Herz und Nieren geprüft wurden. Doch das ist bei weitem nicht so.
Die renommierte Fachzeitschrift «British Medical Journal» hat auf ihrer Website Zahlen dazu zusammengetragen. Und schätzt: Gerade mal ein Drittel der medizinischen Therapien oder Tests sind erwiesenermassen oder zumindest wahrscheinlich nützlich. Das heisst, die positive Wirkung übertrifft möglichen Schaden – wie zum Beispiel Nebenwirkungen.
Fast ein Zehntel ist hingegen sicher oder wahrscheinlich schädlich. Aber noch viel eindrücklicher: Von der Hälfte aller medizinischen Eingriffe weiss man schlicht nicht, ob sie eher nützen oder eher schaden.
Schwerer Stand
Trotz dieser eindrücklichen Zahlen hat ein nicht eben kleiner Teil des medizinischen Personals so seine liebe Müh' mit der evidenzbasierten Medizin: Gemäss einer nicht repräsentativen Umfrage unter Schweizer Ärztinnen und Ärzten kann ein ganzes Viertel der befragten Fachpersonen mit der evidenzbasierten Medizin wenig anfangen.
Warum hat die evidenzbasierte Medizin einen so schweren Stand? Drei Beispiele:
- Zu wenig untersucht Übelkeit, Würgereiz und Erbrechen, das ist es, was vielen Frauen die ersten Monate der Schwangerschaft vergällt. Dagegen werden eine Reihe von Mittelchen empfohlen: Akupunktur, Ingwer, Kamille oder Medikamente gegen Übelkeit und Erbrechen. Das Expertennetzwerk Cochrane Collaboration kommt jedoch zum Schluss: Keine dieser Methoden kann vorbehaltlos empfohlen werden. Nicht dass sie auf keinen Fall etwas nützen. Aber es gibt schlicht zu wenig gute Studien dazu. Das gilt leider nach wie vor für eine Mehrheit der Therapien: Sie sind schlicht zu wenig gut untersucht.
- Niemand hört hin Sollte ein Mann den sogenannten PSA-Test zur Früherkennung von Prostatakrebs machen? Das Versprechen ist immerhin einleuchtend: Man finde damit Auffälligkeiten früh und könne einen möglichen Krebs so besser behandeln. Doch wenn dann behandelt wird, endet das nicht selten in Inkontinenz oder Impotenz, und dies, obwohl sich die entdeckte Auffälligkeit vielleicht gar nie zu einem tödlichen Krebs entwickelt hätte. Deshalb kommen verschiedene Expertengremien zum Schluss: Der PSA-Test schadet meist mehr als er nützt. Doch eine Studie zeigt: Das beeindruckt weder Patienten noch die Ärzte. Der PSA-Test wird in der Schweiz unvermindert häufig eingesetzt. So geht es evidenzbasierten Empfehlungen oft: Sie verhallen ungehört.
- Resultat: unklar Was ist die beste Therapie gegen milde Depressionen? Dazu gibt es auch innerhalb der evidenzbasierten Medizin eine Kontroverse. Während die einen zum Schluss kommen, eine Psychotherapie sei viel sinnvoller und Antidepressiva nützten wenig, betonen die anderen, eine Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie sei die beste Therapie. Auch die evidenzbasierte Medizin hat also nicht immer pfannenfertige Antworten.
Trotzdem ist der Trend unaufhaltsam: Die Medizin versucht sich zunehmend an den vorhanden Studien zu orientieren. Davon sollte nicht nur unsere Gesundheit profitieren, sondern auch unser aller Portemonnaie, denn damit werden unnütze, aber vielleicht teure Behandlungen aussortiert, was wiederum den Prämienanstieg bremsen könnte.
Was ist evidenzbasierte Medizin?
Um wirklich sicher zu sein, dass eine Therapie oder ein Medikament nützt, reicht es nicht, dass es bei einem oder zwei Patienten gewirkt hat. Man muss dazu Studien mit vielen Patientinnen und Patienten machen. Als Goldstandard in der evidenzbasierten Medizin gilt die sogenannte «randomisierte Doppelblindstudie».
Das heisst: Patientinnen und Patienten mit derselben Erkrankung werden zufällig – das ist die Bedeutung von «randomisiert» – auf zwei Gruppen verteilt. Die eine erhält die Therapie auf dem Prüfstand, die andere nur ein Placebo, eine Scheintherapie.
Weder die beteiligten Patienten noch die untersuchenden Forschenden wissen dabei, wer in welcher Gruppe ist – das ist die Bedeutung von «doppelblind».
Wenn nun die Therapie auf dem Prüfstand besser abschneidet als die Scheintherapie und zudem nicht unverhältnismässig mehr Nebenwirkungen zeigt, dann hat die Therapie den Test bestanden – insbesondere wenn das mit sehr grossen Patientengruppen durchgeführt wird, wenn es mehrere unabhängige Studien gibt, die zum gleichen Resultat führen, und wenn die Therapie auch noch gegenüber anderen Therapien gegen dieselbe Erkrankung besser abschneidet.