Vor etwa 5000 Jahren, in der Bronzezeit, erfasst eine grosse Migrationsbewegung die europäische Bevölkerung: Von der pontischen Steppe, nordöstlich des Schwarzen Meers gelegen, wandert das Hirtenvolk der Jamnaja westwärts und verbreitet sich in Europa. Neben ihren Tieren bringen die Steppenhirten noch etwas anderes mit in ihre neue Heimat: Risikogene für Multiple Sklerose.
Die Entdeckung vom Ursprung der Multiplen Sklerose
Ein internationales Forschungsteam um den renommierten dänischen Genetiker Eske Willerslew entdeckt den überraschenden Ursprung der Multiplen Sklerose . Dazu führten die Forscher DNA-Analysen prähistorischer Skelette durch. Das Ziel des grossen, auf mehrere Jahre angelegten Projekts: «die Ursprünge von Krankheitsrisiken und die Migrationsgeschichte Europas zu verstehen», so Willerslew.
Die erste Krankheit, mit der sich das Forschungsteam befasste, war Multiple Sklerose. «Was wir gefunden haben, hat alle Beteiligten überrascht», sagt der Bioinformatiker William Barrie: «Diese Erbgut-Varianten verschafften den Leuten damals einen Überlebensvorteil. Wir denken, die Gene schützten sie vor den Krankheitserregern, denen sie durch ihre Tiere ausgesetzt waren.»
Jamnaja-Nomanden: erfolgreich gegen Infektionskrankheiten
Die Jamnaja lebten damals eng mit ihren Tieren zusammen. Dadurch sind sie in ständigem Kontakt mit deren Keimen: Würmern, Milben und anderen Parasiten; Bakterien wie etwa Tuberkulose; und einer Vielzahl von Viren, zum Beispiel Herpes- oder Influenzaviren. Solche Erreger können auf den Menschen überspringen. Man weiss heute: Die Mehrheit aller Infektionskrankheiten beim Menschen sind Zoonosen – stammen also aus Tieren.
Wer die Gene im Erbgut trug, hatte bessere Überlebenschancen und gab sie an seine Nachkommen weiter. Diesen Prozess nennt man positive Selektion.
Die Jamnaja vor 5000 Jahren wehren sich biologisch erfolgreich gegen Zoonosen: mit einer Reihe von Genen, die auf das Immunsystem wirken. «Die Gene, die heute MS auslösen, waren damals nützlich», erklärt William Barrie. «Wer sie im Erbgut trug, hatte bessere Überlebenschancen und gab sie an seine Nachkommen weiter. Diesen Prozess nennt man positive Selektion.»
Bei Multipler Sklerose sind heute 233 Genvarianten bekannt, die anfälliger machen für die Krankheit. Viele dieser Gene haben die Forschenden in den DNA-Proben der Jamnaja gefunden. «Ursprünglich waren das gute, normale Gene», sagt der Mediziner Lars Fugger von der Universität Oxford. «Das heisst: MS ist nicht durch Mutationen entstanden, sondern über einen natürlichen Selektionsprozess.» Das sei ein erster Schritt, um MS zu «entmystifizieren», so Lars Fugger.
Für Betroffene dürfte diese Aussage schwer zu schlucken sein. Denn MS beeinträchtigt das Leben schwer, mit grosser Müdigkeit, Muskelschwäche und anderen Symptomen. Bei MS greifen die körpereigenen Immunzellen die Isolierschicht der Nervenfasern in Hirn und Rückenmark an. Deshalb wird die Krankheit u.a. mit Immunsuppressiva behandelt – Medikamenten, die das Immunsystem unterdrücken.
Wie aus einem «good Gen» ein «bad Gen» wird
Wie aber wird aus einer genetischen Veranlagung, die ursprünglich gut war, eine gefürchtete Autoimmunerkrankung?
Wir bewegen uns in keimfreien Umgebungen, ernähren uns ganz anders.
Die Forschenden erklären diesen Prozess mit den stark veränderten Lebensbedingungen der vergangenen 200 Jahre, insbesondere mit dem Aufkommen der Hygiene. «Wir bewegen uns in keimfreien Umgebungen, ernähren uns ganz anders», sagt die Virologin Astrid Iversen von der Universität Oxford. «Dann kann die ursprünglich schützende Immunabwehr zu einer Bedrohung werden. Indem sie überreagiert, sich gegen den eigenen Körper richtet.»
Die Forschenden wollen nun weitere Krankheiten ins Visier nehmen und anhand alter DNA-Proben überprüfen, ob ihre These zu MS auch bei anderen Autoimmunerkrankungen zutrifft.