Sie heisst auch Krankheit der 1000 Gesichter: Multiple Sklerose. Ursprung, Verlauf oder Behandlung von MS stellen die Wissenschaft immer noch vor Rätsel. Der Einbezug von tausenden Betroffenen in die Forschung soll helfen, die chronische und unheilbare Nervenkrankheit besser zu verstehen. An einer Tagung in Solothurn diskutierten Fachleute die vielfältigen Möglichkeiten der «Bürgerwissenschaft» in Medizin-, Umwelt- oder Technologieforschung.
Irene Rapold ist schon seit einigen Jahren Bürgerforscherin. Die 57-jährige Chemikerin aus Winterthur erhielt vor über 15 Jahren die Diagnose Multiple Sklerose. Seit 2018 ist sie Teil eines Forschungsprojektes der Universität Zürich, das nach der Methode der Bürgerforschung funktioniert. Sie erfasst unter anderem regelmässig, wie es ihr geht, welche Beschwerden sie hat und wie sie aktuell im Alltag zurechtkommt: «Es ist eine Bestandesaufnahme, mit der ich meine MS und den Verlauf der Krankheit dokumentiere.»
Aus Rapolds Daten und jenen von tausenden anderen MS-Betroffenen entsteht so seit 2016 das nationale MS-Register. Der grosse und stetig wachsende Datensatz wird von der Universität Zürich betreut und analysiert. Durch die Zusammenarbeit mit MS-Betroffenen in diesem Pionierprojekt könne man durch Citizen Science wertvolle Daten gewinnen, die Forschende sonst kaum erhalten würden, sagt Nina Steinemann, die Leiterin des Projektes: «Weil der Verlauf dieser chronischen Erkrankung entscheidend ist, sind diese Langzeitdaten sehr spannend.»
Mit diesen Erkenntnissen können die Fachleute die Grundlagen legen, um Empfehlungen sowie Dienstleistungsangebote an MS-Betroffene zu entwickeln und anzupassen. Empfehlungen, die auf den Daten von tausenden Betroffenen basieren und damit breit abgestützt sind. Unter anderem geht es darum, wie die Lebensqualität trotz Krankheit hoch bleiben kann, wie Betroffene körperlich aktiv bleiben können oder welche Ernährung passend ist. Über diese und andere Formen der Bürgerwissenschaft haben sich Fachleute aus verschiedenen Bereichen an einer nationalen Konferenz ausgetauscht.
Wir arbeiten für die Bevölkerung, also sollten wir doch auch mit der Bevölkerung arbeiten.
Heute würden Patientinnen und Patienten in der Forschung noch viel zu wenig eingebunden, sagt Heidi Kaspar von der Fachhochschule Bern. Die Expertin ist Co-Leiterin des Kompetenzzentrums für partizipative Gesundheitsforschung. Sie hat an der Citizen-Science-Konferenz die anwesenden Fachleute dazu aufgerufen, Patientinnen und Patienten stärker einzubinden in die Forschung: «Wir arbeiten für die Bevölkerung, also sollen wir doch auch mit der Bevölkerung arbeiten. Dieses Selbstverständnis ist aber leider eher die Ausnahme als die Regel.»
Es gibt neben dem MS-Register bereits Bürgerwissenschaft-Projekte zu Long Covid oder zum Umgang mit dem Älterwerden. Vorstellbar sind gemäss Expertin aber weitere Themenfelder, wie etwa der Umgang mit Rheuma oder Depressionen. Die langjährigen, regelmässigen Befragungen seien zwar aufwändig, würden sich aber lohnen.
Im Fall des MS-Registers konnten die Fachleute über die Citizen-Science-Methode schon einige vielversprechende Erkenntnisse gewinnen. Und allenfalls können die Angaben der vielen Tausend Patientinnen und Patienten dereinst sogar dazu beitragen, die Ursache der Krankheit mit 1000 Gesichtern zu finden.