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Nach der Geburt Unterschätztes Wochenbett – was tun gegen den Babyblues?

Die Geburt eines Kindes: ein überwältigender Moment. Nach Stunden, oft Tagen des Wartens, halten Eltern ihr Baby in den Armen. Für viele scheint damit der schwierigste Teil geschafft zu sein. Doch es beginnt eine Zeit, die so fordernd sein kann, dass sie viele emotional an die Grenzen bringt.

Wochenbetthebamme Carolina Iglesias klingelt zum fünften Mal bei Anna und Guillem. Vor zehn Tagen kam der kleine Tomeu auf die Welt. Nach drei Tagen im Spital kam das junge Paar nach Hause, wo plötzlich alles erschreckend anders war.

Das Wochenbett, auch Puerperium genannt, umfasst die ersten sechs bis acht Wochen nach der Geburt. Diese Phase ist in erster Linie eine Zeit der körperlichen und emotionalen Erholung für die Mutter, aber auch eine Zeit der Anpassung an das neue Leben mit dem Neugeborenen.

Wickeln, Baden, Anziehen – alles muss gelernt werden

Während Anna sich von den körperlichen und psychischen Strapazen erholt, beginnt für beide Elternteile ein Alltag, der meist weit von romantisierten Vorstellungen liegt: «Es kommt nicht nur ein Kind auf die Welt, sondern auch eine Mutter und ein Vater. Das gegenseitige Kennenlernen ist zwar sehr schön, aber auch enorm anstrengend. Das unterschätzen viele Paare gerade am Anfang», sagt Carolina Iglesias.  

Der Babyblues: Wenn die Hormone verrückt spielen

In dieser ersten Phase, direkt nach der Geburt, ist es deshalb nicht ungewöhnlich, dass Tränen fliessen. Etwa 50 bis 80 Prozent der frisch gebackenen Mütter erleben in den ersten Tagen den sogenannten Babyblues. Der Hormonspiegel fällt nach der Geburt so abrupt ab, dass es bei vielen Frauen zu Tränenausbrüchen, Stimmungsschwankungen und einem allgemeinen Gefühl der Niedergeschlagenheit kommt.

Frau in dunklem Oberteil sitzt vor Pflanzen.
Legende: Carolina Iglesias unterstützt frisch gebackene Eltern in den ersten Wochen nach der Geburt. SRF

Es ist eine emotionale Achterbahnfahrt, die in Kombination mit Schlafmangel und den neuen Anforderungen des Elternseins überwältigend sein kann. Die Unterstützung durch die Wochenbetthebamme ist für Paare deshalb entscheidend. Carolina Iglesias schaut genau hin, beobachtet die Stimmung und Entwicklung der Paare und unterstützt, wo Hilfe angesagt ist. Oft beruhigt sie junge Eltern, wenn etwas nicht reibungslos funktioniert – sehr oft, wenn es zum Beispiel ums Stillen geht.

Es ist normal, dass das Stillen am Anfang nicht reibungslos funktioniert und es oft mit Schmerzen verbunden ist.
Autor: Carolina Iglesias Wochenbetthebamme

«Viele Eltern haben das Gefühl, wenn die grosse Geburt vorbei ist, dann läuft alles automatisch. Doch eigentlich ist Stillen viel das grössere Thema, denn es begleitet einem Tage, Wochen, Monate. Es ist normal, dass das Stillen am Anfang nicht reibungslos funktioniert und es oft mit Schmerzen verbunden ist. Eltern müssen Geduld haben.»

Zu Carolina Iglesias Aufgaben im Wochenbett gehört auch der Check der Mutter. Denn der Körper durchläuft während der Schwangerschaft eine grosse Transformation. Im Wochenbett bildet er sich zurück.

Die Rückbildung des Körpers

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Im Wochenbett durchläuft der Körper der Frau wichtige Veränderungen, um sich von der Geburt zu erholen. Die Gebärmutter beginnt, sich zurückzubilden, was durch Nachwehen, also Kontraktionen, unterstützt wird. Diese können besonders stark beim Stillen auftreten, da das Hormon Oxytocin freigesetzt wird.

Hormonelle Umstellungen beeinflussen den gesamten Körper, unter anderem durch den Abfall von Schwangerschaftshormonen, was zu Stimmungsschwankungen führen kann. Zudem setzt der sogenannte Wochenfluss ein, eine blutige bis gelbliche Absonderung, die über mehrere Wochen hinweg anhält und das Ausscheiden von Geweberesten und Blut signalisiert. Nach sechs bis acht Wochen ist die Rückbildung normalerweise abgeschlossen.

Diese Rückbildung verlang viel Ruhe und Schonung, was wiederum psychisch herausfordernd sein kann.

Was, wenn der Babyblues nicht vorbeigeht?

Der Hormonhaushalt normalisiert sich in den ersten zwei bis drei Wochen nach der Geburt. Eine erste Eingewöhnung bringt Ruhe ins neue Familiensystem. Sollten nach zwei Wochen emotionalen Schwankungen, übermässige und unerklärliche Traurigkeit und fehlende Muttergefühle nicht verschwinden, ist professionelle Hilfe angezeigt. Denn die Wahrscheinlichkeit, an einer postpartalen Depression zu erkranken, ist hoch: Geschätzt trifft es etwa 10 bis 20 Prozent der Mütter.

Ich wusste damals lange nicht, dass eine Krankheit meinen Zustand erklärt.
Autor: Andrea Borzatta Präsidentin vom Verein Postpartale Depression Schweiz

Und was viele überrascht: Auch zehn Prozent der Männer sind betroffen. Während der Babyblues weitgehend als normal angesehen wird, ist die postpartale Depression eine Herausforderung, die viele Eltern isoliert und sich hilflos fühlen lässt.

Das weiss auch Andrea Borzatta, sie ist Präsidentin vom Verein Postpartale Depression Schweiz (der Verein heisst demnächst: Periparto). Vor zehn Jahren ist sie selbst erkrankt. Ihre eigene Betroffenheit hat sie dann zu ihrem Beruf gemacht: «Ich wusste damals lange nicht, dass eine Krankheit meinen Zustand erklärt. Dass ich so lange nach Informationen und Hilfe gesucht habe, war für mich Motivation genug, den Verein zu professionalisieren. Ich dachte immer: Wenn wir nur einer Person helfen können, hat sich meine Arbeit gelohnt.»

Scham blockiert viel

Diese Hilfe beginnt oft mit einem Austausch. Ein Angebot des Vereins ist unter anderem das Vermitteln von ehemals Betroffenen. 140 freiwillige Frauen und Männer unterstützten als sogenannte Patinnen und Paten akut Betroffene in der schweren Phase und ermöglichen so einen unkomplizierten, niederschwelligen Austausch. Denn die Scham, über die eigenen Gedanken und Gefühlen zu sprechen, beschäftigt praktisch alle, die an einer postpartalen Depression erkranken.

Mehr Infos

Andrea Borzatta: «Dass man einander als Betroffene austauschen kann, braucht weniger Überwindung als der direkte Weg zu einer Psychologin. Man fühlt sich weniger allein und die Scham schwindet.» Das Patinnen-Angebot vom Verein ist kein Ersatz für eine Fachperson, führt jedoch im besten Fall dazu, dass Betroffene frühzeitig professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

Warum viele Eltern unvorbereitet ins Wochenbett rasseln

Warum erleben so viele Eltern das Wochenbett als solch eine grosse Herausforderung? Carolina Iglesias und Andrea Borzatta sind sich einig: Die eigenen Erwartungen und die gesellschaftlichen Vorstellungen an diese Zeit setzen viel zu hoch an. In der Gesellschaft und den (sozialen) Medien wird die Phase nach der Geburt häufig romantisiert dargestellt: Das Bild der glücklichen Familie, die sich entspannt kennenlernt, das Baby, das friedlich schläft und alle sind rundum zufrieden.

Postpartale Psychosen: Wenn die Realität verschwimmt

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Das Wochenbett wurde für Christine zum Albtraum. Sie erkrankte an einer postpartalen Psychose, die etwa ein bis zwei von 1000 Frauen nach der Geburt trifft.

Ohne jegliche Anzeichen traf die Psychose Christine. Ihre Symptome kamen rasant: anfänglich nicht von aussen erkennbar, entwickelten sich innert kürzester Zeit starke Halluzinationen. Sie sah die Welt wie durch einen Schleier, bildete sich Gerüche ein und schlief nicht. In ihrer Verzweiflung wünschte sie sich einen Notfallknopf.

Ihr Mann brachte sie in ihrem Wahn ins Geburtshaus zurück, wo Fachleute die Situation erkannten und den Notfallpsychiater riefen. Unter starken Halluzinationen wurde Christine in eine psychiatrische Klinik gebracht. Die Krankheit begleitete sie noch Monate.

Heute, sechs Jahre später, spricht sie offen über ihre Erfahrungen, um anderen Betroffenen zu helfen.

Diese unrealistischen Vorstellungen führen dazu, dass viele Eltern nicht darauf vorbereitet sind, wie anstrengend und belastend die ersten Wochen sein können. Carolina: «Es gibt im Leben nichts so Paradoxes wie das Wochenbett. So faszinierend, aber auch so streng. Mein Tipp: Nicht den Anspruch haben, alles allein machen zu müssen. Hilfe annehmen und konkret organisieren. Eltern sollten sich etwas verwöhnen lassen können, damit sie das Baby geniessen können.»

Realistische Erwartungen – das A und O?

Das Wochenbett ist keine Zeit des schnellen Wiederaufstehens, sondern eine Phase der langsamen Regeneration und Eingewöhnung in ein neues Leben. Eltern sollten sich darauf einstellen, dass es Zeit braucht, bis sich alles eingespielt hat – und das ist vollkommen in Ordnung. 

Vier Fragen an Psychiaterin Andrea Eisenhut

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Frau vor gelbem Hintergrund.
Legende: Andrea Eisenhut ist Psychiaterin an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich. SRF

SRF: Woher kommt das erhöhte Risiko für Wochenbettdepressionen?

Andrea Eisenhut: Die Zeit im Wochenbett ist entscheidend für die Erholung der Mutter und das Wohlbefinden der ganzen Familie. Es ist wichtig, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, um das Risiko von mentalen Erkrankungen wie Wochenbettdepressionen zu minimieren. Wochenbettdepressionen sind multifaktoriell bedingt. Hauptursachen sind hormonelle Veränderungen nach der Geburt, frühere depressive Phasen, Belastungen und Komplikationen in der Schwangerschaft und zusätzliche Stressfaktoren wie Beziehungskonflikte, fehlende Unterstützung oder soziale Schwierigkeiten.

Was ist der Unterschied zwischen Babyblues und Wochenbettdepression?

Der Babyblues tritt sehr häufig in den ersten Tagen nach der Geburt auf und verschwindet schnell von allein wieder. Er ist gekennzeichnet durch erhöhte Empfindlichkeit, Emotionalität und grundloses Weinen. Wochenbettdepressionen beginnen meist etwas später, verlaufen schleichend, halten länger an und haben stärkere Symptome. Hierzu gehören u. a. traurige Grundstimmung, innere Leere, Energielosigkeit, Verlust an Freude und Interesse, Gefühlslosigkeit und in manchen Fällen auch Schwierigkeiten, eine Beziehung zum Kind aufzubauen. Bei solchen Anzeichen empfiehlt es sich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Welche Rolle spielen Schamgefühle?

Das Wochenbett wird oft als eine der schönsten Zeiten im Leben einer Frau dargestellt, verbunden mit hohen Erwartungen an das Muttersein, sich selbst und die Beziehung zum Kind. Wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden, entstehen häufig Scham- und Schuldgefühle, die die Depression mit aufrechterhalten können. Deshalb ist es wichtig, dass betroffene Frauen über ihre Gefühle sprechen und in der Therapie lernen, diese neu einzuordnen. Es ist wichtig zu verstehen, dass der depressive Zustand nicht selbst verschuldet ist und auch viele andere Mütter davon betroffen sind.

Was hilft gegen eine Postpartale Depression?

Es ist immer wichtig, auf die mentale Gesundheit zu achten, besonders für werdende Eltern. Selbstkenntnis spielt eine grosse Rolle: Man sollte auf Anzeichen achten, wenn es einem nicht gut geht, und offen darüber sprechen – sei es mit dem Partner, Freunden oder in der Familie. Bei den ersten Anzeichen einer psychischen Krise ist es wichtig, sich Hilfe zu holen. In der Schweiz gibt es heutzutage viele niederschwellige Beratungsangebote hin zu spezialisierten Therapiemöglichkeiten für betroffene Frauen und Familien.

Auch hier sind sich Andrea Borzatta und Carolina Iglesias einig: Da müsste sich auch gesellschaftlich noch einiges tun. Eine Anerkennung der Wochenbettzeit als eine wichtige Phase der Erholung und des Neuanfangs könnte das gesellschaftliche Bewusstsein dafür schärfen und Druck von jungen Familien nehmen.

Puls, 21.10.2024, 21:05 Uhr

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