Seit 100 Jahren kennt die Menschheit die Macht der Vitamine. Seither ist bekannt, dass ein Vitaminmangel zu Krankheiten wie Skorbut (Vitamin-C-Mangel), Blutgerinnungsstörungen (Vitamin-K-Mangel), Blutarmut (Vitamin-B5-, -B6-, -B11-, -B12-Mangel) oder Rachitis (Vitamin-D-Mangel) führt. Denn der menschliche Körper benötigt Vitamine für viele lebenswichtige Funktionen. 11 von 13 Vitaminen kann der Körper nicht bedarfsdeckend selbst bilden. Deshalb muss die Nahrung den Grossteil der Vitamine liefern – einige davon als sogenannte Provitamine, die der Organismus dann so umwandelt, dass er sie verwerten kann.
Beliebte Vitaminpräparate
Schätzungen gehen davon aus, dass jede sechste Schweizerin und jeder sechste Schweizer regelmässig Vitaminpräparate schluckt. Die Pillen sind beliebt, denn laut Herstellern sorgen sie je nach Zusammensetzung für ein starkes Immunsystem, gesunde Haare, Nägel und Haut, helfen gegen Migräne, schützen vor Rheuma, unterstützen den Körper bei Stresszuständen und sollen sogar Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs vorbeugen.
Die Vitamine gelten als echte Alleskönner. Besonders die Vitamine C, E und das Provitamin A (Betacarotin) sollen speziell gesund sein, da sie als «Radikale-Fänger» wirken.
Die bösen freien Radikale
Freie Radikale sind aggressive Sauerstoffmoleküle, die ständig bei Stoffwechselprozessen im Körper entstehen. Freie Radikale können u.a. im Zellkern das Erbgut angreifen und zu Krebs führen, so die Theorie.
Vitamine wie A, C und E – die sogenannten Antioxidantien – bekämpfen die freien Radikale, indem sie sich an diese anlagern und sie so unschädlich machen. Doch was im Reagenzglas funktioniert, lässt sich nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragen.
Mehrere Studien zweifeln am Nutzen
So zeigte eine grosse Studie mit über 35‘000 Männern, dass hohe Dosen Vitamin E entgegen der Erwartungen der Wissenschaftler das Krebsrisiko nicht senkten, sondern im Vergleich zur Placebogruppe das Prostatakrebsrisiko um 17 Prozent erhöhten.
Ähnliche Resultate lieferte Ende 2011 auch eine Langzeitstudie aus den USA. Dabei wurden die Lebens- und Essgewohnheiten von 40‘000 Frauen während 22 Jahren untersucht. Die Forscher untersuchten, wie sich Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamine und Mineralien auf das Sterberisiko auswirken und entdeckten, dass Multivitamintabletten und Eisenpräparate das Sterberisiko erhöhten. Insbesondere Kupfer – das wie die antioxidativen Vitamine Radikale bekämpfen soll – erhöhte das Sterberisiko um 18 Prozent. Bei Multivitaminpräparaten lag es um 2,4 Prozent höher.
Erste Hinweise bereits vor 18 Jahren
Ebenfalls ein schlechtes Zeugnis stellte den antioxidativen Vitaminen eine 2008 veröffentlichte Metaanalyse aus. Sie untersuchte die Ergebnisse von 68 Vitaminstudien mit über 230‘000 Teilnehmern und kam zum Schluss, dass die Einnahme das Sterberisiko erhöht – für Vitamin A um 16 Prozent, für Betacarotin um sieben und Vitamin E um vier Prozent.
2010 kommt eine schwedische Studie zum Ergebnis, dass Multivitaminpräparate das Risiko erhöhen, an Brustkrebs zu erkranken. Die erste grosse Studie, die den Nutzen von zusätzlichen Vitaminen bezweifelte, erschien bereits 1994. Sie sollte zeigen, dass Betacarotin dank seiner antioxidativen Eigenschaften Raucher vor Lungenkrebs schützt. Doch die Auswertung zeigte, dass hohe Dosen die Häufigkeit von Lungenkrebs um 18 Prozent erhöhten.
Nützliche freie Radikale
Heute glauben immer mehr Wissenschaftler, dass freie Radikale auch nützliche Funktionen im Körper wahrnehmen. Es gibt Hinweise darauf, dass sie nicht nur gesunde Zellen schädigen, sondern dass sie auch entartete Zellen frühzeitig unschädlich machen und so möglicherweise verhindern, dass später Krebs entsteht. Deshalb werden die freien Radikale zunehmend als ein integraler Bestandteil einer gut funktionierenden Körperabwehr angesehen. Der Einsatz von Antioxidantien wie Vitamin A, C und E macht deshalb – wenn kein Vitaminmangel vorliegt – aus gesundheitlicher Sicht viel weniger Sinn, als lange Zeit angenommen.
Kein Vitaminmangel in der Schweiz bei guter Ernährung
In der Schweiz ist zudem der weitaus grösste Teil der Bevölkerung über eine ausgeglichene Ernährung genügend mit Vitaminen versorgt, betonen Experten wie David Fäh, Mitautor des Schweizerischen Ernährungsberichts.
Die natürlichen Vitamine aus Gemüse und Früchten seien auch gesünder als die künstlich hergestellten Vitaminpräparate, da Früchte und Gemüse noch tausende andere Mikronährstoffe enthalten. Ernährungsspezialisten vermuten, dass die natürlichen Vitamine erst im Zusammenspiel mit diesen Mikronährstoffen ihre positive Wirkung auf die Gesundheit voll entfalten. Wer sich also gesund ernährt und keinen erhöhten Vitaminbedarf wie z.B. Schwangere oder Hochleistungssportler hat, tut sich mit Vitaminpräparaten nichts Gutes – im Gegenteil.