«Ein Wunschkind!» Als Jeanni Antic, damals 26, fröhliches Lächeln, Ende 2023 einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand hält, ist sie einfach glücklich. Was sie nicht ahnt: Mit ihm beginnt eine emotionale Achterbahnfahrt mit vielen Sorgen und vielen Tränen.
Die junge Frau aus dem Zürcher Oberland hat bereits eine einjährige Tochter und will die erneute Schwangerschaft von ihrer Frauenärztin bestätigen lassen. Nur: Die Gynäkologin findet nichts. Kein Embryo im Ultraschall, kein Herzschlag – und auch sonst keine Anzeichen dafür, dass Jeanni Antic wieder ein Kind erwartet. Weder bei der ersten Untersuchung in der 6. Woche noch bei der zweiten in der 8. Woche.
Tablette nach vermeintlicher Fehlgeburt
Die Ärztin diagnostiziert eine Fehlgeburt. «Ich weiss ja aus der ersten Schwangerschaft, wie alles ausgesehen hat in der 8. Woche. Dass es mit einem Pünktchen anfängt und immer grösser wird», sagt Jeanni Antic. «Ich habe ja selbst gesehen, dass wirklich nichts da gewesen ist.»
Die Gynäkologin rät ihr zu Misoprostol, einer Substanz, die Wehen auslöst und dem Körper helfen soll, die Fehlgeburt zügig auszuscheiden. Um wieder ganz für ihre kleine Tochter da sein zu können, habe sie die Fehlgeburt schnell hinter sich bringen wollen. «Dabei wollte die Frauenärztin mich unterstützen.»
Schock beim Kontrolltermin
Antic vertraut – und nimmt die Tablette. «Als ich zur Kontrolle gegangen bin, um zu schauen, ob alles rausgegangen ist, hat man auf dem Ultraschallbild ein zehn Wochen altes Embryo gesehen», erzählt sie. «Ich war überglücklich und habe geweint, weil ich gar nicht glauben konnte, dass ich jetzt doch Mami werde. Meine Frauenärztin war allerdings sichtlich geschockt, weil sie realisiert hat, was genau passiert ist.»
Der Ultraschall zeigt es zweifelsfrei: Die Diagnose «Fehlgeburt» war ein Irrtum – und in Jeanni Antics Bauch wächst entgegen aller Erwartung doch ein Kind. Das grosse Problem, das die Frauenärztin sofort realisiert, Jeanni Antic aber erst mal nicht, ist nun: Dieses Kind war Misoprol ausgesetzt – dem Wirkstoff jener Tablette, die Antic geschluckt hat, um die vermeintliche Fehlgeburt rasch zu beenden. Und Misoprostol gehört zu den sogenannten Teratogenen.
Risiko: fehlende Arme und Beine und Lähmungen
Diese Substanzen können ungeborene Kinder schwer schädigen. «Es kann zum Beispiel zu Fehlgeburten, Wachstumsstörungen, angeborenen Fehlbildungen, aber auch kognitiven Beeinträchtigungen und in seltenen Fällen auch zu einem erhöhten Krebsrisiko kommen», erläuterte Pharmazeutin Ursula Winterfeld, Fachfrau für Arzneimittelrisiken in der Schwangerschaft am Unispital Lausanne. «Zu den typischen Fehlbildungen bei Misoprostol gehören unter anderem verkürzte oder fehlende Gliedmassen, aber auch Gesichtslähmungen.»
Hotline für überfragte Ärzte und anderes Gesundheitspersonal
Winterfeld kennt sich mit dem Thema so gut aus wie nur wenige. Am Unispital Lausanne leitet sie den «Swiss Teratogen Information Service», kurz STIS – die landesweit einzige Beratungsstelle für Arzneimittelrisiken in der Schwangerschaft. Rund 650 Anfragen von Ärzten, Apothekern und Hebammen hat sie mit ihrem Team 2023 beantwortet – telefonisch oder per Mail, immer gratis. Schwangere direkt berät das STIS nicht, dazu fehlen die Ressourcen.
Am häufigsten gehe es bei den Anfragen um Psychopharmaka, so Winterfeld. «Vor allem um Antidepressiva und Neuroleptika. Das Gute ist, dass wir da in den meisten Fällen tatsächlich auch beruhigen können. Psychopharmaka sind in der Regel sehr gut untersucht in der Schwangerschaft.» Entsprechend verlässliche Auskünfte können die Experten geben. Bei etlichen anderen Wirkstoffen hingegen – gerade neueren – bleibt ein Rest Unsicherheit.
Oft fehlen sichere Erkenntnisse
Denn wenn eine Substanz neu zugelassen wird, ist mehrheitlich unklar, wie sie auf ungeborene Kinder wirkt. Schwangere werden aus ethischen Gründen nämlich nicht in klinische Wirksamkeits- und Verträglichkeitsstudien aufgenommen.
«Viele Informationen über die Sicherheit von Medikamenten in der Schwangerschaft stammen deshalb aus Beobachtungsstudien, Fallberichten oder auch Tierversuchen», sagt Winterfeld, «Und diese Daten sind oft unvollständig oder nicht direkt auf den Menschen übertragbar.»
Nach dem Schock wegen der Misoprostol-Tablette wird Jeanni Antic an einen Pränatalmediziner überwiesen, der klären soll, wie es ihrem Baby geht. Auch er holt sich Rat beim STIS – und die Experten empfehlen, Gesicht, Gliedmassen und das zentrale Nervensystem des Kindes im Ultraschall genau zu beobachten.
STIS-Expertise sorgt für erste Erleichterung
Glücklicherweise steige das Fehlbildungsrisiko durch Misoprostol nach aktueller Studienlage nur moderat, sagt Ursula Winterfeld – nämlich auf vier bis sechs Prozent. «Die meisten Kinder werden gesund geboren.» Diese Einordnung sei eine grosse Hilfe gewesen – und eine erste Erleichterung, erzählt Antic. Misoprostol-Fälle wie der von Jeanni Antic seien zwar selten, sagt Winterfeld, «aber wir hatten schon andere Anfragen zu genau dieser Situation».
Deutlich häufiger melden sich überfragte Ärzte beim STIS, weil sie etwa wissen wollen: Wie riskant ist es, wenn eine werdende Mutter Medikament A und Medikament B kombinieren muss? Was tun, wenn eine kranke Schwangere dringend ein Mittel braucht, dessen Anwendung in der Schwangerschaft aber nicht zugelassen ist? Dieser sogenannte «off label»-Einsatz ist grundsätzlich erlaubt, braucht aber erst recht eine gründliche Nutzen-Risiko-Abwägung.
Register mit 12'000 Datensätzen von Schwangeren und ihren Kindern
Das STIS greift bei seiner Beratung auf neueste internationale Studien zu. An manchen Untersuchungen arbeitet es sogar selbst mit. Die STIS-Mitarbeiter führen nämlich eine Datenbank mit rund 12'000 Einträgen zu Krankheit und Medikamenten der Mutter, zum Schwangerschaftsverlauf und der Gesundheit des Kindes. Die werten sie immer wieder auf bestimmte Fragestellungen hin aus.
Auch sie werde dem STIS ihre Daten überlassen, sagt Jeanni Antic. «Damit wir auch in die Statistik aufgenommen werden – für nachfolgende Frauen, die das gleiche Problem haben wie ich.»
Weil sämtliche Ultraschallbilder gut aussehen, wird Antic in den folgenden Schwangerschaftsmonaten immer zuversichtlicher. Ende Juni enden Unsicherheit und Gefühlsachterbahn endgültig: Sie bringt eine gesunde Tochter zur Welt. «Eine kleine Kämpferin», sagt Antic. «Sie hat nichts abbekommen von den Medikamenten. Was will man sich noch mehr wünschen? Es ist einfach wunderschön.»