Zum Inhalt springen
Audio
Gefahr für Mutter und Kind: Medikamente in der Schwangerschaft
Aus SRF 4 News vom 29.08.2024. Bild: Imago Images / Panthermedia
abspielen. Laufzeit 8 Minuten 2 Sekunden.

Risiko im Mutterleib Können Medikamente dem Baby im Bauch schaden?

Rund 650 Mal pro Jahr hilft eine Beratungsstelle am Unispital Lausanne, wenn Schwangere sich wegen Medikamenten um ihr Baby ängstigen. Jeanni Antic gehört dazu. Sie hatte versehentlich eine Risiko-Tablette genommen.

«Ein Wunschkind!» Als Jeanni Antic, damals 26, fröhliches Lächeln, Ende 2023 einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand hält, ist sie einfach glücklich. Was sie nicht ahnt: Mit ihm beginnt eine emotionale Achterbahnfahrt mit vielen Sorgen und vielen Tränen.

Die junge Frau aus dem Zürcher Oberland hat bereits eine einjährige Tochter und will die erneute Schwangerschaft von ihrer Frauenärztin bestätigen lassen. Nur: Die Gynäkologin findet nichts. Kein Embryo im Ultraschall, kein Herzschlag – und auch sonst keine Anzeichen dafür, dass Jeanni Antic wieder ein Kind erwartet. Weder bei der ersten Untersuchung in der 6. Woche noch bei der zweiten in der 8. Woche.

Tablette nach vermeintlicher Fehlgeburt

Die Ärztin diagnostiziert eine Fehlgeburt. «Ich weiss ja aus der ersten Schwangerschaft, wie alles ausgesehen hat in der 8. Woche. Dass es mit einem Pünktchen anfängt und immer grösser wird», sagt Jeanni Antic. «Ich habe ja selbst gesehen, dass wirklich nichts da gewesen ist.»

Blisterpackung mit Mifepriston- und Misoprostol-Tabletten.
Legende: Mifepriston, auch bekannt als RU-486, ist ein Medikament, das in der Regel in Kombination mit Misoprostol verwendet wird, um einen medizinischen Schwangerschaftsabbruch herbeizuführen und eine frühe Fehlgeburt zu behandeln. Imago Images / NurPhoto

Die Gynäkologin rät ihr zu Misoprostol, einer Substanz, die Wehen auslöst und dem Körper helfen soll, die Fehlgeburt zügig auszuscheiden. Um wieder ganz für ihre kleine Tochter da sein zu können, habe sie die Fehlgeburt schnell hinter sich bringen wollen. «Dabei wollte die Frauenärztin mich unterstützen.»

Schock beim Kontrolltermin

Antic vertraut – und nimmt die Tablette. «Als ich zur Kontrolle gegangen bin, um zu schauen, ob alles rausgegangen ist, hat man auf dem Ultraschallbild ein zehn Wochen altes Embryo gesehen», erzählt sie. «Ich war überglücklich und habe geweint, weil ich gar nicht glauben konnte, dass ich jetzt doch Mami werde. Meine Frauenärztin war allerdings sichtlich geschockt, weil sie realisiert hat, was genau passiert ist.»

Video
Archiv: Umkehrung der Abtreibungspille – geht das?
Aus 10 vor 10 vom 19.10.2022.
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 30 Sekunden.

Der Ultraschall zeigt es zweifelsfrei: Die Diagnose «Fehlgeburt» war ein Irrtum – und in Jeanni Antics Bauch wächst entgegen aller Erwartung doch ein Kind. Das grosse Problem, das die Frauenärztin sofort realisiert, Jeanni Antic aber erst mal nicht, ist nun: Dieses Kind war Misoprol ausgesetzt – dem Wirkstoff jener Tablette, die Antic geschluckt hat, um die vermeintliche Fehlgeburt rasch zu beenden. Und Misoprostol gehört zu den sogenannten Teratogenen.

Risiko: fehlende Arme und Beine und Lähmungen

Diese Substanzen können ungeborene Kinder schwer schädigen. «Es kann zum Beispiel zu Fehlgeburten, Wachstumsstörungen, angeborenen Fehlbildungen, aber auch kognitiven Beeinträchtigungen und in seltenen Fällen auch zu einem erhöhten Krebsrisiko kommen», erläuterte Pharmazeutin Ursula Winterfeld, Fachfrau für Arzneimittelrisiken in der Schwangerschaft am Unispital Lausanne. «Zu den typischen Fehlbildungen bei Misoprostol gehören unter anderem verkürzte oder fehlende Gliedmassen, aber auch Gesichtslähmungen.»

Lächelnde Frau in weissem Arztkittel vor weissem Hintergrund.
Legende: Ursula Winterfeld ist Apothekerin und klinische Pharmakologin. Sie hat ein Certificate in Advanced Studies – Obstétrique, médecine maternelle et foetale absolviert und ist Fachfrau für Arzneimittelrisiken in der Schwangerschaft am Unispital Lausanne. ZVG

Hotline für überfragte Ärzte und anderes Gesundheitspersonal

Winterfeld kennt sich mit dem Thema so gut aus wie nur wenige. Am Unispital Lausanne leitet sie den «Swiss Teratogen Information Service», kurz STIS – die landesweit einzige Beratungsstelle für Arzneimittelrisiken in der Schwangerschaft. Rund 650 Anfragen von Ärzten, Apothekern und Hebammen hat sie mit ihrem Team 2023 beantwortet – telefonisch oder per Mail, immer gratis. Schwangere direkt berät das STIS nicht, dazu fehlen die Ressourcen.

Wo können sich Schwangere selbst schlaumachen?

Box aufklappen Box zuklappen

Egal, ob Migränemittel, Hustenstiller oder Fiebersenker beispielsweise: Wenn Schwangere selbst recherchieren wollen, ob ein Medikament riskant für ihr Ungeborenes ist, lohnt sich das Infoportal von Embryotox in Berlin. «Das ist eine gute erste Infoquelle», sagt STIS-Leiterin Ursula Winterfeld.

Embryotox arbeitet ähnlich wie das STIS und pflegt das grösste deutschsprachige Online-Suchportal mit Informationen zu über 400 Arzneimitteln. Jedoch lässt sich auch dort nicht auf alles eine Antwort finden – etwa dann nicht, wenn es um die Kombination verschiedener Medikamente geht. Wenn Fragen offen blieben, so Winterfeld, «würde ich Schwangeren empfehlen, doch über den Arzt oder Apotheker zu gehen, dass es zu einer individuellen Beratung kommt».

Hier geht es zum Embryotox-Suchportal.

Am häufigsten gehe es bei den Anfragen um Psychopharmaka, so Winterfeld. «Vor allem um Antidepressiva und Neuroleptika. Das Gute ist, dass wir da in den meisten Fällen tatsächlich auch beruhigen können. Psychopharmaka sind in der Regel sehr gut untersucht in der Schwangerschaft.» Entsprechend verlässliche Auskünfte können die Experten geben. Bei etlichen anderen Wirkstoffen hingegen – gerade neueren – bleibt ein Rest Unsicherheit.

Oft fehlen sichere Erkenntnisse

Denn wenn eine Substanz neu zugelassen wird, ist mehrheitlich unklar, wie sie auf ungeborene Kinder wirkt. Schwangere werden aus ethischen Gründen nämlich nicht in klinische Wirksamkeits- und Verträglichkeitsstudien aufgenommen.

«Viele Informationen über die Sicherheit von Medikamenten in der Schwangerschaft stammen deshalb aus Beobachtungsstudien, Fallberichten oder auch Tierversuchen», sagt Winterfeld, «Und diese Daten sind oft unvollständig oder nicht direkt auf den Menschen übertragbar.»

Welche Medikamente sind erwiesenermassen besonders riskant?

Box aufklappen Box zuklappen

Das bekannteste Teratogen ist Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid, der bei Ungeborenen Fehlbildungen an Armen, Beinen, Hüfte und Ohren hervorrufen kann. Auch Valproat, ein Mittel gegen Epilepsie, ist riskant: Es erhöht das natürliche Fehlbildungsrisiko, das bei jedem Neugeborenen etwa drei Prozent beträgt, deutlich – und zwar auf bis zu 20 Prozent. Typisch sind der offene Rücken sowie andere Schäden an Wirbelsäule und Rückenmark.

Auch Retinoide gegen schwere Akne können im ersten Schwangerschaftsdrittel gefährlich sein: Sie verursachen bei bis zu 25 Prozent der Kinder Fehlbildungen an Gesicht, Gaumen, Ohren oder dem zentralen Nervensystem. Zudem können sie die Intelligenz mindern.

Die älteren Blutdrucksenker Enalapril und Losartan sind ab der 20. Woche riskant: Sie können die Nieren des Ungeborenen schädigen – und schlimmstenfalls zum Tod führen.

Nach dem Schock wegen der Misoprostol-Tablette wird Jeanni Antic an einen Pränatalmediziner überwiesen, der klären soll, wie es ihrem Baby geht. Auch er holt sich Rat beim STIS – und die Experten empfehlen, Gesicht, Gliedmassen und das zentrale Nervensystem des Kindes im Ultraschall genau zu beobachten.

STIS-Expertise sorgt für erste Erleichterung

Glücklicherweise steige das Fehlbildungsrisiko durch Misoprostol nach aktueller Studienlage nur moderat, sagt Ursula Winterfeld – nämlich auf vier bis sechs Prozent. «Die meisten Kinder werden gesund geboren.» Diese Einordnung sei eine grosse Hilfe gewesen – und eine erste Erleichterung, erzählt Antic. Misoprostol-Fälle wie der von Jeanni Antic seien zwar selten, sagt Winterfeld, «aber wir hatten schon andere Anfragen zu genau dieser Situation».

Deutlich häufiger melden sich überfragte Ärzte beim STIS, weil sie etwa wissen wollen: Wie riskant ist es, wenn eine werdende Mutter Medikament A und Medikament B kombinieren muss? Was tun, wenn eine kranke Schwangere dringend ein Mittel braucht, dessen Anwendung in der Schwangerschaft aber nicht zugelassen ist? Dieser sogenannte «off label»-Einsatz ist grundsätzlich erlaubt, braucht aber erst recht eine gründliche Nutzen-Risiko-Abwägung.

Register mit 12'000 Datensätzen von Schwangeren und ihren Kindern

Das STIS greift bei seiner Beratung auf neueste internationale Studien zu. An manchen Untersuchungen arbeitet es sogar selbst mit. Die STIS-Mitarbeiter führen nämlich eine Datenbank mit rund 12'000 Einträgen zu Krankheit und Medikamenten der Mutter, zum Schwangerschaftsverlauf und der Gesundheit des Kindes. Die werten sie immer wieder auf bestimmte Fragestellungen hin aus.

Sind Abnehmspritzen wie Ozempic ein Risiko für Ungeborene?

Box aufklappen Box zuklappen

Die kurze Antwort ist: nach aktueller Datenlage wahrscheinlich nicht. Das legt eine kürzlich veröffentlichte internationale Studie unter Federführung des STIS nahe.

Dafür wurden die Daten von 168 diabeteskranken oder übergewichtigen Schwangeren und ihren Kindern ausgewertet, die in der Frühschwangerschaft den Wirkstoffen Semaglutid oder Liraglutid ausgesetzt waren – meist unabsichtlich, weil die Frauen die Schwangerschaft noch nicht bemerkt hatten.

Die Forschenden fanden bei ihrer Datenauswertung keine erhöhte Rate von Fehlgeburten oder Fehlbildungen. Eine erste Studie aus Nordamerika mit rund 900 Patientinnen sei mit Blick auf Fehlbildungsrisiken zuvor schon zu ähnlich beruhigenden Ergebnissen gekommen, so STIS-Leiterin Ursula Winterfeld. Laut der Packungsbeilagen sollen bzw. dürfen die Semaglutid und Liraglutid nicht während der Schwangerschaft verwendet werden.

Zur Studie des STIS zu Abnehmspritzen (in englischer Sprache).

Auch sie werde dem STIS ihre Daten überlassen, sagt Jeanni Antic. «Damit wir auch in die Statistik aufgenommen werden – für nachfolgende Frauen, die das gleiche Problem haben wie ich.» 

Weil sämtliche Ultraschallbilder gut aussehen, wird Antic in den folgenden Schwangerschaftsmonaten immer zuversichtlicher. Ende Juni enden Unsicherheit und Gefühlsachterbahn endgültig: Sie bringt eine gesunde Tochter zur Welt. «Eine kleine Kämpferin», sagt Antic. «Sie hat nichts abbekommen von den Medikamenten. Was will man sich noch mehr wünschen? Es ist einfach wunderschön.»

Radio SRF 4 News, Wissenschaftsmagazin, 29.8.2024, 1:35 Uhr

Meistgelesene Artikel