Ein Einfamilienhaus auf dem Land, ein Garten, viel Grün: Wohnexpertin Elke Reitmayer lebt mit ihrer Familie den Wohntraum der meisten Schweizerinnen und Schweizer.
Laut der jährlich erscheinenden Wohntraum-Studie einer Schweizer Versicherung ist das Landleben die begehrteste Wohnform hierzulande. Aus wohnpsychologischer Sicht ist sie aber nicht per se das Mass aller Dinge – sie birgt sogar Risiken.
«Man lässt sich oft von dieser Idylle täuschen und meint, die Natur alleine würde alles richten», sagt Reitmayer. Ein Fehlschluss. Die diplomierte Architektin und Expertin für Wohn- und Architekturpsychologie hat oft erlebt, dass Einfamilienhäuser in ländlichen Gegenden beispielsweise schnell zu Isolation führen können.
Entscheidend sei nicht, ob man in der Stadt oder auf dem Land lebe. Sondern, ob die gewählte Wohnsituation zu den eigenen Bedürfnissen passt. Doch selbst wenn man für sich die passende Wahl getroffen hat, gibt es psychologische Kriterien, welche das Wohlbefinden in Räumen positiv und negativ beeinflussen können.
Hell und offen – manchmal zu offen
Das zeigt sich etwa in der Wohnsituation von Manuel. Der 32-Jährige hat sich für eine 1,5-Zimmer-Wohnung in Zürich-Nord entschieden. Sie ist unweit von seinem Arbeitsplatz gelegen und er ist schnell in der Innenstadt, um Freunde zu treffen.
Die Wohnung ist kompakt, dafür bezahlbar – ideal für seine momentane Lebenssituation als Single. Manuels Einrichtung ist modern, minimalistisch, aber dennoch gemütlich. Das Wohlbefinden zu Hause ist für den Flugbegleiter besonders wichtig: «Wenn ich nach Hause komme, muss es einfach passen und ich muss mich wohlfühlen.»
Gehen Leute an der Wohnung vorbei, laufen sie einem praktisch durchs Schlafzimmer.
Doch es gibt einen Haken: Seine Parterrewohnung hat riesige Fensterfronten im Wohnzimmer und im Eingangsbereich. Sie bieten zwar viel Tageslicht, gewähren aber auch viel Einblick in sein ganz privates Reich. «Gehen Leute an der Wohnung vorbei, laufen sie einem praktisch durchs Schlafzimmer», beschreibt Manuel die Situation.
Aus wohnpsychologischer Sicht ein grosser Nachteil: «Man spricht vom ‹Being-on-stage›-Effekt, dem Gefühl, als wäre man immer auf der Bühne», erklärt Elke Reitmayer. «Regenerieren und Entspannen fallen da schwer. Auf Dauer hat das Auswirkungen auf unseren Körper und auf unser Wohlbefinden.» Mögliche Folgen können Gereiztheit und Konzentrationsstörungen sein – in Extremfällen gar eine totale Abschottung, die in Vereinsamung münden kann.
Also Vorhang zu? «Eben nicht», mahnt die Expertin. «Wir brauchen den Bezug zum Aussenbereich und zur Natur. Das sind Stimulationen für unser Gehirn.» Es brauche einen Zwischenweg.
Ein solcher Zwischenweg kann das Anbringen von Plissees sein. Die Faltstoren werden von unten nach oben gezogen. «Zieht man sie nur bis auf Brüstungshöhe, gibt das schon sehr viel Sicherheit», sagt Elke Reitmayer. «So hat man den Blick nach draussen. Trotzdem ist man geschützt, wenn man mal mit den Boxershorts am Esstisch sitzt.» Auch eine immergrüne Bepflanzung vor den Fenstern könne dem Bühnen-Gefühl entgegenwirken.
Das Wechselspiel zwischen Alleinsein und Zusammensein ist nicht nur in Bezug auf Innen- und Aussenräume wichtig. Auch beim Zusammenleben mehrerer Menschen in einem Haushalt sind Rückzugsmöglichkeiten wichtig.
Viele Köpfe, zu wenig Zimmer
So etwa im Wohnalltag der alleinerziehenden Mutter Adina. Mit ihren vier Kindern lebt sie in Zürich-Schwamendingen in einem einfachen Miethäuschen in einer kinderfreundlichen Siedlung mit viel Grün- und Begegnungsflächen.
Die Platzverhältnisse im Reihenhaus sind bescheiden: vier Schlafzimmer für eine fünfköpfige Familie. Die drei älteren Kinder im Teenager-Alter haben ein eigenes Zimmer. Der 10-jährige Sohn teilt sich das Zimmer mit seiner Mutter.
Jedes fünfte Kind verfügt in der Schweiz über kein eigenes Zimmer. Das muss aus wohnpsychologischer Sicht kein Nachteil sein. Erst ab einem gewissen Alter werden Rückzugsorte wichtig.
«Man sagt, dass Kinder so ab acht Jahren ihren eigenen Bereich brauchen. Dann geht es sehr stark darum, dass sie sich ihren Raum aneignen können, Poster und Bilder aufhängen oder Farben reinbringen», sagt Elke Reitmayer.
Aber nicht nur Kinder haben ein Rückzugsbedürfnis. Dass auch Eltern Privatsphären brauchen, geht in vielen Familien vergessen. Oft sind dafür schlicht zu wenig Zimmer verfügbar.
Rückzugsmöglichkeiten liessen sich trotzdem schaffen, so Reitmayer: «Jeder Mensch hat das Anrecht auf zumindest eine private Nische, wo sonst keiner eingreift. Einen Ort, den man selbst gestalten kann und der nur einem selbst gehört.»
Zwei Personen, neun Zimmer, zwei Welten
Das Thema Aneignung spielt auch in der Wohnsituation von Julia und Martin eine grosse Rolle. Das Ehepaar wohnt im zürcherischen Winkel, zu zweit in einer 9-Zimmer-Villa.
Genügend Zimmer, dass sich beide ihre persönlichen Rückzugsorte aneignen könnten. Doch das ist in diesem denkmalgeschützten Gebäude von 1900 nicht einfach. Vieles lässt sich nicht verändern: knarrende alte Holzböden, dunkle Täferwände, dunkelrote Tapeten und viele historische Verzierungen.
Mein erster Gedanke war: Mein Gott, es ist wie in einem Museum.
Martin hat das Haus vor 30 Jahren gekauft. Der Unternehmer liebt den Charme des Alten. Ganz im Gegensatz zu seiner Frau Julia. Sie ist erst vor vier Jahren eingezogen: «Mein erster Gedanke war: Mein Gott, es ist wie in einem Museum!» Wenn es dunkel sei und alles voller Holz, könne sie darin nicht sein und arbeiten.
Von neun Zimmern entspricht nur eines Julias Bedürfnissen. Ein relativ kleiner Raum im Obergeschoss, den sie zugleich als Schlaf-, Arbeits- und Ankleidezimmer nutzt: «Hier ist es hell und es gibt Teppichboden.»
Raum für Gemeinsamkeit schaffen
Martin und Julia haben komplett unterschiedliche Vorstellungen von behaglichem Wohnen. Das hat Einfluss auf ihr Zusammenleben. Wie sich das äussert, lässt sich in einem sogenannten Bewegungsdiagramm abbilden. Eine Technik, die Elke Reitmayer verwendet, um Wohnmuster von Bewohnerinnen und Bewohnern zu visualisieren.
In einem Grundriss sollen Julia und Martin während eines Tages all ihre Bewegungen im Haus bis ins kleinste Detail einzeichnen: Wo geht man separate Wege? Und wo kann man etwas verändern?
Nach 24 Stunden sehen sie ihre Vermutung schwarz auf weiss bestätigt: «Die Küche ist praktisch der einzige Raum, den wir gemeinsam nutzen», resümiert Julia.
Mehr Raum für beide schaffen, das ist nun das Ziel von Martin und Julia. Als Erstes soll ein Wohnzimmer entstehen, das sie von Grund auf gemeinsam neu gestalten. Oder in wohnpsychologischer Terminologie: Ein Wohnzimmer, das den Aneignungsbedürfnissen beider entspricht.