Drei Milliliter Flüssigkeit – ein riesengrosser Hype. Die Abnehmspritze Ozempic ist so etwas wie der Shooting-Star unter den Medikamenten. Kein Wirkstoff hat in den vergangenen Monaten in der Fachwelt und den sozialen Medien für mehr Aufsehen gesorgt als das darin enthaltene Semaglutid.
Bei Menschen mit Diabetes Typ 2 und Adipositas-Betroffenen sorgt der Fertigpen für deutlich mehr Lebensqualität und weniger Gewicht. Und weil abnehmen, glaubt man prominenten Ozempic-Fans wie Elon Musk oder Kim Kardashian, «nie einfacher» war, kam es aufgrund der hohen Nachfrage in vielen Ländern – auch in der Schweiz – zu Versorgungsengpässen bei Diabetikerinnen.
Semaglutid, der Alleskönner?
Möglicherweise wird der Hype auch in Zukunft nicht abreissen: In dem Medikament soll nämlich noch mehr stecken als ein potentes Abnehmmittel.
Gerade erst veröffentlichte das Fachjournal «Nature Medicine» neue Erkenntnisse zu den Effekten auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Mit Semaglutid konnte etwa das Herzinfarktrisiko bei Nicht-Diabetes-Patientinnen um 20 Prozent gesenkt werden.
Doch auch Nieren- und Lebererkrankungen sollen mit dem GLP-1-Rezeptoragonisten gemildert werden und Suchterkrankungen verschwinden. Beinahe wöchentlich erscheint eine neue Studie zu potenziellen Anwendungsbereichen. Ist Semaglutid der Wirkstoff gegen alles?
Neue Hoffnung für Suchtkranke?
«Zuerst hatte ich keine Lust mehr auf meine morgendliche Zigarette, nach zwei Wochen war ich rauchfrei», erzählt «BellaXX» auf Tiktok. Berichte wie dieser mischen sich immer häufiger unter die Abnehmerfolgs-Videos in den sozialen Medien. Menschen sollen ihre Süchte losgeworden sein, seit sie Semaglutid nutzen. Weniger Alkohol, keine Shopping-Eskapaden und Rauchstopp dank Fertigpen heisst es auch bei «CNN», «Zeit» oder «CNBS».
Matthias Blüher, der die Adipositasambulanz der Universitätsklinik Leipzig leitet, teilt diese Beobachtung bei «Zeit Online»: «Patienten berichten, dass sie viel weniger rauchen, trinken oder es ihnen leichter gefallen ist, komplett aufzuhören.»
Unterdrückt Semaglutid neben dem Appetit womöglich auch das Suchtverlangen? Und wenn ja: Wie?
Belohnungssystem: geblockt
«Solche Rückmeldungen habe ich in meinem Klinikalltag noch nicht erhalten», so Martin Meyer. Er ist Oberarzt im Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen in Basel und verfolgt die Forschung um Semaglutid schon länger. «Ich glaube aber nicht, dass die Wirkung von Semaglutid derart stark ist, dass Suchterkrankte alleine damit clean werden können», so der Experte.
Er halte es zwar für möglich, dass das bei einigen wenigen klappt. Aber ein Allheilmittel für Süchtige? Wohl kaum. «Trotzdem sollte man die Berichte ernst nehmen.» Schauen wir uns das Ganze also genauer an.
Das Dopamin-Feuerwerk
Essen und Drogen haben eine Gemeinsamkeit: Sie wirken so anziehend auf uns, weil sie unser Lustzentrum aktivieren, den Nucleus accumbens. Dieser Nervenzell-Knubbel, der sich im Vorderhirn befindet, ist der Sitz des Belohnungssystems. Das wiederum wird vom Botenstoff Dopamin stimuliert. Dockt das Dopamin hier einmal an, sendet der Rezeptor des Nucleus accumbens ein Erregungs-Feuerwerk an andere Gehirnstrukturen. Sie lösen Zufriedenheit und Freude aus.
Früher satt und keine Lust auf Nikotin?
Das passiert etwa, wenn wir essen, Sport machen oder Sex haben. Und weil sich das so gut anfühlt, wollen wir es immer wieder. Drogen schaffen eine Abkürzung zu diesem guten Gefühl, indem sie mehr Dopamin ausschütten oder dafür sorgen, dass der Spiegel langsamer abfällt.
Bei Patientinnen, die abnehmen wollen, setzt Semaglutid genau an diesen Rezeptoren an. Sie melden dem Gehirn, früher satt zu sein und weniger Süsses oder Fettiges essen zu wollen. Die Vermutung ist, dass das auch bei Alkohol oder Nikotin funktionieren könnte.
Deshalb untersuchen Wissenschaftlerinnen und Forscher bereits seit einiger Zeit, ob Exenatid und Liraglutid – die Vorgänger von Semaglutid – den Konsum von Suchtmitteln beeinflussen können. In Versuchen mit Mäusen, Ratten und Affen verringerten die Wirkstoffe den Alkoholkonsum. Und: Sie hemmten bei Mäusen das Verlangen nach Amphetaminen, Kokain und Nikotin.
Ratten trinken weniger Alkohol
Bei Menschen wurde bislang vor allem der Wirkstoff Exenatid untersucht. Von diesem Wirkstoff weiss man, dass Probandinnen, wenn sie ihn einnehmen und eine Therapie machen, deutlich weniger Alkohol trinken als Menschen, die ein Placebo bekommen und eine Therapie machen. Das konnten dänische Forschende bereits 2022 zeigen.
Dass das bei Menschen genauso gut funktioniert, bezweifle ich.
Im vergangenen Jahr folgte dann eine Semaglutid-Studie mit Ratten und Mäusen: Den Tieren wurde der Wirkstoff injiziert und eine Stunde später sowohl eine Flasche mit Wasser als auch eine mit Alkohol angeboten. Und: Mehr Nager entschieden sich gegen den Alkohol.
Der Effekt sei deutlich stärker als bei den Vorgänger-Medikamenten, schreibt die Pharmakologin Elisabet Jerlhag Holm von der Universität Göteborg, die eine der Studien leitete. Klingt zu schön, um wahr zu sein?
Sucht ist komplexer
Wäre da nicht der Reality Check: «Dass das bei Menschen genauso gut funktioniert, bezweifle ich», sagt der Basler Suchtexperte Martin Meyer. Semaglutid-verwandte Medikamente, die sich im Tiermodell ähnlich verheissungsvoll verhalten hatten, konnten bei Menschen schon in früheren Versuchen nicht die gleichen Effekte erzielen. Denn: Sucht ist komplexer und vielschichtiger als ein einzelner neurobiologischer Dopamin-Prozess.
Es gehe bei Sucht immer auch um Konditionierung und Emotionsregulation: In welchen Situationen und mit welchen Gefühlen greife ich zum Glas? Wo und mit wem? Diese Faktoren seien massgeblich beteiligt an der Entstehung und Erhaltung einer Sucht – und werden nicht durch Semaglutid ausradiert, so der Experte.
Eine Therapie verdoppelt den Erfolg
Was es brauche, seien Therapien, die alltagsbegleitend und längerfristig unterstützen. Das zeigten auch Untersuchungen bei Nikotinsucht, erklärt Meyer: «In Studien konnte man sehen, dass das Medikament Bupropion Raucherinnen zwar dabei hilft, aufzuhören. Aber es wirkt eben noch besser in Kombination mit einer Verhaltenstherapie.» Medikamente können bei der Bekämpfung einer Sucht immer nur als ein Baustein von vielen angesehen werden.
In Dänemark und den USA laufen gerade die ersten klinischen Studien, die den Effekt von Semaglutid auf Alkohol- und Nikotinkonsum bei Menschen untersuchen. «Wir gehen davon aus, dass es alles unterdrückt, was das Belohnungssystem in hohem Masse aktiviert, wie eben Suchtmittel», so Studienleiterin Jerlhag Holm. Dabei nehme das Medikament jedoch nur die Spitzen weg, Freude und Lust werden nicht allgemein vermindert. Es ist also eher unwahrscheinlich, dass Semaglutid eine komplette Ablehnung von Alkohol und Nikotin verursacht.
Die Ergebnisse werden noch in diesem Jahr erwartet. Ob die Wirkung bei allen Menschen gleich ist und wie lange sie anhält, muss sich dann noch zeigen. Denn auch bei übergewichtigen Menschen dauert der gewichtsreduzierende Effekt nur so lange, wie sie Semaglutid einnehmen. Sucht-Allheilmittel? Nein.
Die neuen Herz-Kreislauf-Helfer?
43 Prozent der Schweizer Erwachsenen sind übergewichtig. Zwölf Prozent leben mit Adipositas – einem hohen Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Daher wundert es nicht, dass Forschende sich auch den Effekten von Semaglutid auf kardiovaskuläre Erkrankungen widmen: Die im Fachjournal «The New England Journal of Medicine» publizierte SELECT-Studie ist eine der grössten.
Tatsächlich sind die positiven Effekte von Semaglutid auf das kardiovaskuläre System gross.
Sie wurde vom Ozempic-Hersteller Novo Nordisk finanziert und zeigt, dass der darin enthaltene Wirkstoff einen positiven Effekt auf die Herzgesundheit hat – auch bei Menschen ohne Diabetes. Durch den Wirkstoff konnte das Risiko schwerer Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Erwachsenen mit Übergewicht oder Adipositas um 20 Prozent reduziert werden. Die Abnehmspritze als effektives Herz-Kreislauf-Medikament?
«Tatsächlich sind die positiven Effekte von Semaglutid auf das kardiovaskuläre System gross», so Stefan Fischli, Chefarzt für Endokrinologie und Diabetologie am Luzerner Kantonsspital. «Wir haben mit diesen Präparaten etwas in der Hand, das effektiv gegen kardiovaskuläre Folgeerkrankungen bei Diabetes hilft – und auch Menschen mit Übergewicht helfen kann.»
Nun zeigt die Studie: Das Medikament wirkt auch unabhängig vom Startgewicht. Der Hauptautor der Studie, Jason Halford, Präsident der European Association for the Study of Obesity, sieht darin sogar die Zukunft der kardiovaskulären Behandlungen: «Die Ergebnisse zeigen, dass das Medikament routinemässig zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen verschrieben werden sollte.» Wirklich allen?
Ob es bei jemandem, der noch nie Probleme mit dem Herz hatte, auch hilft, wissen wir nicht.
«Da wäre ich vorsichtig. Ob es bei jemandem hilft, der zuvor noch nie Probleme mit dem Herz hatte, wissen wir nicht. Das gilt es in weiteren Studien herauszufinden», so Stefan Fischli.
Auch deshalb, weil der Mechanismus hinter den positiven Effekten auf das Herz noch nicht klar sind: Ist es die Gewichtsabnahme, die dafür sorgt, dass Organe wie Herz, Leber oder Nieren weniger belastet werden? Oder wirkt Semaglutid direkt auf das Herz und hemmt die Entzündungsprozesse?
«Es scheint, als wäre es mehr als die blosse Gewichtsabnahme. Aber noch haben wir nicht genügend Daten, um das auseinanderdividieren zu können», so Endokrinologe Phillipp Gerber vom USZ. Sie dürften bald folgen.
Good News für die Pharmaindustrie
Ein Mechanismus, der in dieser Sache relativ klar sein dürfte, ist der monetäre: Laut Jason Halford könne es nämlich auch für die Wirtschaft vorteilhaft sein, Semaglutid auf breiter Basis zu verschreiben. «Wenn die Kosten erst gesunken sind, werden die Einsparungen für die Gesundheitssysteme erheblich sein.»
Im britischen Finanzministerium werde bereits über die Einsparungen für die Wirtschaft nachgedacht, da die Produktivität gesteigert werden kann. «Man muss seine Arbeitskräfte so fit wie möglich machen», so der Forscher gegenüber dem «Guardian». Die Pharmaindustrie, allen voran Nova Nordisk, dürfte sich über diese Aussagen freuen.
Der Blick in die Glaskugel
Sibylle Bischofberger, Pharma-Analystin der Privatbank Vontobel, bezeichnete das Medikament bereits im Oktober 2023 in einem SRF-Interview als Mega-Blockbuster: «Von einem Blockbuster spricht man, wenn das Potenzial pro Jahr eine Milliarde Dollar Umsatz übertrifft», sagt Bischofberger.
Ein Mega-Blockbuster sei, wenn das Potenzial noch viel höher ist. «Wir erwarten, dass die Medikamentenumsätze weltweit in den nächsten drei Jahren zehn Milliarden deutlich übertreffen könnten.» Das Potenzial von Medikamenten der Wirkstoffklasse Semaglutid sei riesig, sagt sie.
Wir sind seit über 15 Jahren vertraut im Umgang mit diesen Substanzen und den Nebenwirkungen.
Und die Langzeit-Folgeerscheinungen?
Wagen wir also einen Blick in die Zukunft: Diabetes-Patientinnen, Betroffene von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Suchterkrankte spritzen sich das Medikament regelmässig – über Jahre. Wie sieht es mit den Folgeerscheinungen dieser Wirkstoffe aus? Wissen Fachpersonen genug über Langzeit-Nebenwirkungen?
«Wir sind seit über 15 Jahren vertraut im Umgang mit diesen Substanzen und den Nebenwirkungen», so Endokrinologe Fischli. Schwere Komplikationen hätten sich in dieser Zeitspanne nicht gezeigt.
Auch die Befürchtung, dass Semaglutid vermehrt zu Suizidgedanken führt (besonders junge Nutzerinnen hatten darüber berichtet), konnte durch eine klinische Studie zuletzt widerlegt werden. «Aber natürlich würde es helfen, einen noch längeren Zeitrahmen zu haben, um in Sachen Nebenwirkungen wirklich sicher zu sein», so Fischli.
Viele Wirkungsweisen benötigen viel Forschung
Für die Forschung heisst das also: dranbleiben. «Ich glaube, dass der Wirkstoff Semaglutid Menschen nicht nur beim Gewichtverlieren helfen kann. Er wirkt systemisch auf ganz viele Faktoren und Bereiche im Körper. Wenn man systemische Krankheiten behandeln will, braucht man ein Medikament, das systemisch im ganzen Körper wirkt», so Philipp Gerber.
Ein Mittel gegen alles? Wohl kaum. Aber eines mit sehr vielen Wirkungsweisen – die es noch zu erforschen gilt, um sie wirklich zu verstehen. Sieht so aus, als würde uns Semaglutid noch eine Weile beschäftigen.