150 Berichte über mögliche Fälle von Selbstverletzung und Selbstmordgedanken sollen bisher vorliegen. Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) untersucht nun, ob die Wirkstoffe in den Medikamenten tatsächlich zu Depressionen oder suizidalem Verhalten führen könnten. Ein Kausalzusammenhang liegt bisher nicht vor. David Infanger, Facharzt für Adipositas, gibt Auskunft zur neuesten Entwicklung.
SRF News: Wie ordnen Sie einen möglichen Kausalzusammenhang zwischen der Einnahme von Ozempic und Berichten über Depression und Selbstmordgedanken ein?
David Infanger: Ein Kausalzusammenhang ist schwierig zu beurteilen und es gibt auch noch keine stichhaltige Literatur dazu. Es gibt zwar eine Studie zum Medikament Saxenda. Dabei lag der Anteil der Behandelten, welche Gedanken über Suizide hatte, bei 0.3 Prozent – im Vergleich zu 0.1 Prozent bei der Placebogruppe.
Die behandelte Gruppe hat jedoch auch mehr Gewicht abgenommen als die unbehandelte Gruppe. Ob sich das auf das emotionale Essverhalten auswirkt, kann man bei der aktuellen Studienlage aber nicht beweisen.
Was bedeutet das?
Ich kann mir vorstellen, dass das emotionale Essverhalten durch das unterdrückte Hungergefühl wegfällt und das bei anfälligen Personen zu Problemen führen kann. Deshalb dürfen diese Medikamente zur Behandlung von Diabetes oder Gewichtsreduktion nur im Rahmen eines Adipositas- oder Diabetesprogramms abgegeben werden. In diesem Rahmen werden regelmässige ärztliche Kontrollen durchgeführt, wo auch die psychische Situation erfasst wird und falls notwendig frühzeitig ein Therapieabbruch eingeleitet werden kann.
Es gibt aber auch andere Studien, die vermuten lassen, dass GLP-1-Agonisten einen günstigen Effekt auf eine Depression haben können.
Gibt es erwiesene Langzeitfolgen durch die Einnahme des Medikaments?
Bei der Einnahme über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahre gibt es Studien, welche Nebenwirkungen wie Durchfall, Verstopfung und Erbrechen dokumentieren. Es gibt aber noch keine Langzeitstudie über 20 bis 40 Jahre, weil es die Stoffgruppe in der Therapie noch nicht so lange gibt.
Das Saxenda-Medikament zur Behandlung von Übergewichtigen wird normalerweise über drei Jahre von der Krankenkasse bezahlt und dann gestoppt und nur noch intervallartig verordnet. Ozempic wird bei Diabetikern über eine längere Zeit angewendet, da es ein Diabetes-Medikament ist.
Personen mit einem Body-Mass-Index unter 27 sollten Ozempic für die Gewichtsabnahme nicht anwenden, da das Risiko-Nutzen-Verhältnis nicht gegeben ist.
Man muss aber immer Vorteile und mögliche Gefahren voneinander abwägen. Eine schwer übergewichtige Person, die 10 Kilogramm oder mehr abnimmt, hat deutlich weniger häufig bestimmte Krebskrankheiten und bessere Cholesterin- und Blutdruckwerte. Das heisst, der Nutzen der Gewichtsabnahme überragt die möglichen Gefahren. Personen mit einem Body-Mass-Index unter 27 sollten Ozempic für die Gewichtsabnahme nicht anwenden, da das Risiko-Nutzen-Verhältnis nicht gegeben ist und es bereits Lieferengpässe gibt, sodass Diabetiker nicht ausreichend versorgt werden können.
Für Ende November 2023 werden die Ergebnisse der Überprüfung zu den 150 Berichten erwartet. Was passiert, wenn ein Kausalzusammenhang festgestellt werden kann?
Je nach festgestelltem Zusammenhang müsste die Zielgruppe eingeschränkt oder das Medikament vom Markt genommen werden. Je nachdem wäre es auch für die ganze Stoffgruppe ein Entscheid. Viele Menschen haben dank dieser Medikamentengruppe dauerhaft an Gewicht verloren – es wäre ein Trauerspiel, wenn man diese Stoffgruppe nicht mehr geben könnte.
Das Gespräch führte Saya Bausch.