«Durch sie erhält das Menschenkind erst Grösse und Gestalt!» – die Milchwerbung von 1950 sparte nicht an Superlativen und lobte das «weisse Gold» unter anderem als essenzielle Kalziumquelle für starke Knochen in den Himmel.
Über 70 Jahre ist das her, und der Ton hat sich drastisch verändert. Kuhmilch wird nicht mehr nur gelobt – sie sieht sich vielmehr mit immer kritischeren Stimmen konfrontiert. Gesundheitsblogger und auch Medizinerinnen werfen der Kuhmilch vor, eine Krankmacherin zu sein. Ein «weisses Gift», das schwere Leiden begünstige, wenn nicht gar verursache.
Auch hierzulande gibt es Milchkritiker. So rät etwa Renato Pichler, Präsident des Interessenverbandes für vegan und vegetarisch lebende Menschen in der Schweiz SwissVeg, vom Kuhmilch-Konsum ab: «Die Nachteile der Milch sind so gravierend auf so vielen Ebenen, ich würde vor dem Konsum warnen.»
Demgegenüber steht die Tatsache, dass Milch in der Schweiz als Teil einer ausgewogenen Ernährung empfohlen wird. So rät die Schweizer Lebensmittelpyramide des Bundes zu drei Portionen Milch am Tag.
Die widersprüchlichen Aussagen rund um die Milch werfen die Frage auf: Ist Kuhmilch Freund oder Feind? Macht sie uns stark oder krank? Und warum trinken wir überhaupt die Muttermilch einer anderen Spezies?
Warum trinkt der Mensch Kuhmilch?
Der menschliche Körper ist ursprünglich nur im Säuglingsalter dafür programmiert, Milch zu verwerten. Doch als die Menschen in Europa vor etwa 6000 Jahren sesshaft wurden, kam es zu einer genetischen Veränderung.
Dank dieser Mutation entwickelten einige Menschen die Fähigkeit, das Enzym Laktase ihr ganzes Leben lang zu produzieren. Laktase ist notwendig für die Verdauung von Milchzucker (Laktose). Diese Menschen konnten somit Milch und Milchprodukte über das Säuglingsalter hinweg problemlos verdauen, was ihnen einen evolutionären Vorteil bescherte.
Diese genetische Eigenschaft wurde an nachfolgende Generationen weitervererbt. Auch in einigen Regionen Afrikas hat sich diese Mutation durchgesetzt. Weltweit ist allerdings der Grossteil (65 Prozent) der Menschheit im Erwachsenenalter laktoseintolerant.
Gesunde Knochen nur dank Milch?
Das gesunde Image der Milch blieb lange unangetastet. Vor allem als Kalziumlieferant für gesunde Knochen wurde das «weisse Gold» gerühmt.
Den guten Ruf verdankt die Milch nicht zuletzt dem geschickten Marketing der Milchindustrie. Zwar hält mittlerweile selbst Swissmilk auf der eigenen Website fest, dass «Kuhmilch kein Medikament» sei und nicht vor Osteoporose im Alter schütze. Die Vorstellung, dass Milch besonders gut für Knochen ist, hält sich bis heute hartnäckig.
Ernährungswissenschaftler wie David Fäh von der Berner Fachhochschule haben aber klare Einwände gegen die alten Werbeversprechen. Er sagt: «Dazu fehlt es an wissenschaftlich fundierten Grundlagen.»
Eine ausreichende Kalziumzufuhr ist für die Knochengesundheit wichtig, doch sie darf nicht überbewertet werden. Gesunde Knochen benötigen ebenso eine grundsätzlich ausgewogene Ernährung, regelmässige Bewegung und ein gesundes Körpergewicht.
Kuhmilch ist zwar ein guter Kalziumlieferant, aber auch pflanzliche Quellen wie Nüsse, Samen oder Hülsenfrüchte liefern Kalzium. So haben beispielsweise asiatische Völker, die traditionell keine Kuhmilch konsumieren, teilweise sogar geringere Raten von Osteoporose und Knochenbrüchen als westliche Völker.
Hierzulande, wo der Milchkonsum höher ist, sind die Raten an Osteoporose höher. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass Kuhmilch schädlich sein könnte?
Milch ist Gift?
Ein klarer Milchkritiker ist Hausarzt Renato Werndli aus Eichberg. Er geht in seiner Praxis so weit, dass er Patienten vom Milchkonsum abrät, weil zahlreiche wissenschaftlichen Studien, die er zum Thema gesammelt hat, dagegensprächen.
Seine Vorwürfe gegen die Kuhmilch sind happig: Diabetes, Herzkreislauferkrankungen, Akne, Krebs. Als besonders problematisch erachtet Werndli die Wachstumshormone in der Milch. Denn Kuhmilch enthält wie menschliche Muttermilch das Wachstumshormon IGF-1. Dieses spielt eine Rolle im Prozess des Zellwachstums.
Milchkritiker wie Werndli sagen, dass die Aufnahme von IGF-1 aus Kuhmilch das Wachstum von Krebszellen anregen könnte. Ein Vorwurf, den Felix Beuschlein, Endokrinologe am Universitätsspital Zürich, nicht nachvollziehen kann.
Beuschlein erklärt, dass das IGF-1 aus der Kuhmilch bereits im Magen so zersetzt wird, dass es nicht in den Blutkreislauf gelangen kann. «Und wenn man es sich noch vorstellt, dass ein IGF-1 Molekül in die Blutbahn gelangen könnte, ist das ein Tropfen im Bodensee. Das spielt keine Rolle», ist der Experte überzeugt.
Hausarzt Renato Werndli verweist nachdrücklich auf die Forschung, die seine Zweifel an der Milch nähren. Doch auch die Milchbefürworterinnen argumentieren mit der wissenschaftlichen Datenlage. So betont Barbara Walther von Agroscope, dass die Lebensmittelpyramide auf den neusten wissenschaftlichen Ergebnissen basiere.
Man findet immer eine oder mehrere Studien, die das bestätigen, was man vertreten will. Und die Gegenseite findet mindestens ebenso viele.
Die Milchdebatte zeigt, dass es bei der Interpretation der Studienlage einen Spielraum gibt. Ernährungswissenschaftler David Fäh sagt: «Man findet immer eine oder mehrere Studien, die das bestätigen, was man vertreten will. Und die Gegenseite findet mindestens ebenso viele.»
Das liege daran, dass man es in der Ernährungsforschung bis jetzt noch nicht geschafft habe, ein Design auf die Beine zu stellen, welches eindeutige Aussagen zulässt. Denn die Evidenz in den Ernährungswissenschaften ist meist nur begrenzt aussagekräftig, da die menschliche Ernährung komplex und individuell ist.
Viele der Studien basieren auf Beobachtungen und von Probanden selbst ausgefüllten Fragebögen über das eigene Essverhalten. Mehrheitlich wird erst Jahre später ausgewertet, an welchen Krankheiten die Probanden in der Zwischenzeit erkrankt sind. Dieser statistische Zusammenhang sagt noch nichts über die genauen Ursachen der Erkrankung aus. Denn wenn zwei Faktoren miteinander in Zusammenhang stehen, bedeutet das nicht automatisch, dass der eine den anderen verursacht.
Woran kann man sich also halten? Felix Beuschlein gibt einen Rat: «Ob nun für oder gegen die Milch: Es ist stets ein guter Reflex, zu hinterfragen, woher die Informationen kommen. Eine kritische Auseinandersetzung ist wichtig.»
Die widersprüchlichen Ergebnisse der Ernährungswissenschaften machen diese Aufgabe nicht leichter.