Ob bei der Powerpoint-Präsentation vor versammeltem Team, beim Smalltalk am Geschäfts-Apéro, bei der Bestellung an der Metzgertheke oder beim Telefonat zur Tischreservation im Restaurant: Schüchterne haben es im Zeitalter der Selbstdarstellung besonders schwer.
Experten-Chat
Früher waren viele Menschen im eigenständigen Handwerk tätig, arbeiteten für sich in der Werkstatt oder im Familienbetrieb. Heute gehen die meisten ihrem Beruf in Grossraumbüros oder Teams nach, halten Vorträge und Powerpoint-Präsentationen, telefonieren, kommunizieren, interagieren, referieren und präsentieren – vor allem auch sich selbst.
Das Erstaunliche ist: Schüchterne Menschen bewegen sich oft in einem Beruf, der mit Menschen zu tun hat. Mauro Pilatti* zum Beispiel ist seit über 20 Jahren im Detailhandel tätig. Auch jetzt in einer leitenden Position verbringt er noch 70 Prozent seiner Arbeitszeit auf der Verkaufsfläche. Büroarbeit mag er nicht, Verkauf ist seine Passion, sein Traumberuf – wenn da nur nicht die Präsentationen wären, die er regelmässig vor seinem Chef und seinen Mitarbeitern halten muss. «Ich bekam schon Stunden vorher Bauchweh und Kopfschmerzen, musste vor der Präsentation 20 Mal auf die Toilette und hätte mich am liebsten bis zum Ende der Sitzung in einem dunklen Raum vor allen Menschen der Welt versteckt», erzählt er.
Ablehnung befürchtet
Diese körperlichen Symptome sind sehr typisch. Die meisten schüchternen Menschen klagen über Herzklopfen, Schwitzen, Zittern und Unwohlsein bis zur Übelkeit. Sie laufen rot an, fühlen ihre Gliedmassen nicht mehr und haben einen Mund so trocken wie die Wüste.
Doch nicht nur das: Neben den physischen Reaktionen gehören auch bestimmte wiederkehrenden Gedanken und Gefühle zur Schüchternheit: die Angst vor peinlichen Situationen, der Eindruck beobachtet zu werden, die Furcht sich zu blamieren. Schüchterne Menschen befürchten nicht nur die Ablehnung ihrer Person, sie gehen davon aus. Sie antizipieren die schlimmsten Reaktionen auf ihre Person.
So war es auch bei Mauro Pilatti: «Ich war mir sicher, dass ich weinen würde, sobald ich vor den Menschen stünde. Oder dass ich etwas ganz Dummes sagen würde. Ich war auch überzeugt, dass es niemanden interessiert, was ich zu sagen habe und dass mich alle inkompetent finden.»
Patrick Rohr, früher Moderator beim Schweizer Fernsehen, trainiert seit zehn Jahren Menschen, die Angst vor Präsentationen oder der direkten Kommunikation mit anderen Menschen haben: «Es sind häufig Kaderleute, die diese Angst mit sich herumtragen. Vor allem, wenn sie in dem einen Betrieb gross geworden sind.»
Seine Erfahrung bestätigt: «Bei praktisch allen entsteht das Problem im Kopf. Es ist die pure Angst zu versagen, sich vor den Kollegen oder Vorgesetzten zu blamieren, die durch Druck von aussen noch verstärkt wird.»
Einfach, aber effektiv
Die Gedanken im Kopf sind es denn auch, die ein schüchterner Mensch angehen muss. Erstaunlicherweise sind die drei Tipps, die Patrick Rohr diesem Schützlingen mitgegeben hat, sehr einfach.
- Bleib wie du bist.
- Du weisst besser Bescheid über den Inhalt deines Referats als die anderen.
- Fehler machen ist erlaubt. Wenn etwas schief geht: schmunzeln und ruhig weitermachen.
Diese simplen Ratschläge haben Mauro Pilattis Berufsleben verändert. «Etwas ist passiert in meinem Kopf», freut er sich. «Natürlich habe ich immer noch ein bisschen Bauchweh vor einer Präsentation, aber ich freue mich nun auch auf sie, weil ich weiss, dass ich das kann! Kürzlich habe ich sogar spontan den Präsentationsteil meines Chefs übernommen, weil ich so in Fahrt war.»
Schüchternheit beginnt im Kopf und genau dort muss sie angegangen werden. Wer das schafft, wird mit der Zeit Erfolge erleben, die wiederum die Angst vor einer Blamage nehmen.
Kursangebot ist gross
Das Ratgeber-Angebot in Form von Büchern und das Kursangebot gegen Schüchternheit ist sehr gross. Wichtig ist, im Vorfeld abzuklären, ob sich die Schüchternheit eher auf das Präsentieren im Beruf bezieht oder auf den Alltag. Wer den direkten Kontakt mit Menschen im Alltag meidet und sich bereits in die eigenen vier Wände zurückzieht, sollte sich auch über die Kurse der Psychiatrischen Kliniken informieren, weil eventuell bereits eine Sozialangst besteht.
Auch eine Therapie wäre in diesem Fall angebracht. In spezifischen Rollenspielen werden unter der Leitung eines Psychologen die Fertigkeiten in Alltagssituationen geübt. In einigen Städten existieren auch Selbsthilfegruppen, die ohne Fachperson Alltagssituationen auf der Strasse üben.
*Name von der Redaktion geändert