Wachtherapie - Die antidepressive Wirkung schlafloser Nächte
Ein Schlafentzug macht reizbar, antriebslos, krank. Noch heute kommt er als Folter zum Einsatz. Aber ein Schlafentzug kann auch als Therapie dienen. Denn gezielt eingesetzt, soll er depressive Symptome lindern – und zwar bereits nach einer Nacht.
Es sei schon «etwas merkwürdig» als Einzige im Haus wach zu sein. Während der Rest der psychiatrischen Klinik noch tief schläft, ist Nadia Dörflinger bereits um 2:00 Uhr nachts aufgestanden. Die Patientin der Privatklinik Hohenegg hat knapp vier Stunden Schlaf hinter sich.
Sie unterzieht sich einem gezielten, therapeutischen Schlafentzug. «Ich habe immer gedacht, das sei schwieriger.» Aber wenn sie sich an ihre Morgenroutine halte – Zähne putzen, duschen, schminken, anziehen –, dann fühle sie sich «erstaunlich fit».
Positives Paradoxon: Durchmachen gegen die Depression
Der gezielte Schlafentzug, auch Wachtherapie genannt, ist Teil Dörflingers Behandlung. «Ich hatte eigentlich gedacht, ich würde noch erschöpfter, noch müder werden.» Aber das Gegenteil sei eingetreten: «Es fühlt sich leichter an, ein bisschen vergnügter.»
Wieso ein Schlafentzug Depressionen lindert
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Dass die Wachtherapie wirkt, ist weitgehend unbestritten. Wie sie wirkt, ist hingegen noch nicht abschliessend geklärt. Eine mögliche Erklärung liegt in unserem Gehirn und seiner sogenannten Neuroplastizität.
Wenn wir Informationen und Eindrücke verarbeiten, heisst das für unsere Nervenzellen: sich ständig untereinander auszutauschen. Dabei übertragen Synapsen elektrische und chemische Signale von einer Nervenzelle auf die andere.
Morgens übertragen die Synapsen noch wenig Signale. Im Verlaufe des Tages übertragen sie immer mehr Signale. Denn wir interagieren ständig mit der Umwelt.
Unsere Synapsen haben einen bestimmten Aktivitätsbereich, in dem wir Eindrücke optimal verarbeiten – so die Vermutung. Abends überschreiten die Signalübertragungen diesen optimalen Bereich. Der Schlaf sorgt dann dafür, dass sich unser Nervensystem wieder beruhigt. Am nächsten Morgen sind wir wieder bereit für neue Eindrücke.
Anders als bei Gesunden sind die Signalübertragungen bei Personen mit depressiver Symptomatik verringert. Soll heissen: Ihre Synapsen übertragen zu wenig Signale. So bleiben sie stets unter dem Bereich, in dem Eindrücke optimal verarbeitet werden.
Hier setzt die Wachtherapie an: Wenn Betroffene wach sind – statt zu schlafen – steigen ihre Signalübertragungen an. Bis auch sie den optimalen Bereich erreichen. So können Eindrücke wieder besser verarbeitet werden – die Stimmung verbessert sich.
Seit den 1970er-Jahren ist bekannt, dass ein Schlafentzug depressive Symptome lindern kann. Bei etwa 60 bis 80 Prozent der betroffenen Personen wirke die Therapie, ordnet Caesar Spisla ein. Er ist Psychiater an der Privatklinik Hohenegg in Meilen und hat Nadia Dörflinger auf die Therapie aufmerksam gemacht.
Es sei nicht immer einfach, Patientinnen und Patienten dazu zu motivieren. «Aber wenn sie sich motivieren lassen, dann sind sie überrascht», so Spisla. «Das ist eben dieses positive Paradoxon.»
Wachtherapie vs. Antidepressiva und Psychotherapie
Mit der schnell einsetzenden Wirkung der Wachtherapie können andere Therapien nicht mithalten. Denn bereits nach einer durchwachten Nacht verbessert sich die Stimmung Betroffener. Dazu sei keine Psychotherapie und kein Antidepressivum in der Lage, so der Psychiater Caesar Spisla. «Bei Antidepressiva beträgt die Latenzzeit bis zur Wirkung mindestens 14 Tage.» Manchmal seien es sogar drei oder vier Wochen.
Eine Methode ohne schlaflose Nächte
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Einst sollen Personen mit depressiver Symptomatik nicht mehr Nächte durchmachen müssen, um von der antidepressiven Wirkung des Schlafentzugs zu profitieren. Das ist zumindest das Ziel des Forschungsteams um Corinne Eicher. Die Studienärztin und Doktorandin der Universität Zürich hat sich für ihre Forschungsarbeit von der Wachtherapie inspirieren lassen.
Im Schlaflabor der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich testen Corinne Eicher und ihr Team die neue Methode bereits an Probanden. Dafür messen sie deren Hirnströme im Schlaf. Zu einem bestimmten Zeitpunkt im Tiefschlaf kriegen die Probandinnen Geräusche über Kopfhörer abgespielt. «Dadurch können wir die Tiefschlafwellen verkleinern», erklärt Corinne Eicher. Davon erhofft sie sich den gleichen stimmungsaufhellenden Effekt wie jenen der Wachtherapie.
Die Methode aus dem Schlaflabor hat jedoch einen gewaltigen Vorteil gegenüber der klassischen Wachtherapie: Betroffene müssen sich keinem Schlafentzug unterziehen. Sie nehmen die Geräusche im Tiefschlaf erst gar nicht wahr. «Der Schlaf selbst ist unbeeinträchtigt», betont Corinne Eicher, «das heisst, die Probanden wachen nicht auf.» Die Müdigkeit bleibe aus. «Es ist für sie eine ganz normale Nacht.»
Aber die Wachtherapie komme mit einem entscheidenden Nachteil: So schnell die Wirkung auch einsetze – so schnell verpuffe sie auch wieder, so Spisla. Bei 80 Prozent kehren die depressiven Symptome bereits nach der nächsten durchgeschlafenen Nacht wieder zurück. Wegen dieser hohen Rückfallquote gelte es, die Therapie regelmässig zu wiederholen.
So musste sich auch Nadia Dörflinger wiederholt dem Schlafentzug unterziehen. Jede zweite Nacht ist sie nun um 2:00 Uhr aufgestanden. Und das während zwei Wochen.
«Ein schöner Nebeneffekt»
Für Nadia Dörflinger hat sich das Wachbleiben gelohnt. «Als ich in die Klinik kam, habe ich mich nicht wahnsinnig kompetent gefühlt.» Sie hätte es eigentlich gerne anders geschafft, mit ihrer Erschöpfung umzugehen. Für die Wachtherapie hat sie sich entschieden, weil sie auf eine medikamentöse Behandlung verzichten wollte. Die Therapie kam aber auch mit einem weiteren «schönen Nebeneffekt»: dem Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Dank der Disziplin, die Nadia Dörflinger im Rahmen der Wachtherapie aufbringen musste und konnte, habe sie sich wieder selbstwirksam gefühlt. «Patienten merken, dass sie durch ihr Handeln – durch das Wachbleiben in der Nacht – etwas für ihre Genesung tun können», beobachtet Caesar Spisla.
Gerade deshalb wünscht sich der Psychiater, dass die Wachtherapie populärer wird und zukünftig häufiger zur Anwendung kommt.
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