«Auch wenn ich das meiner Mutter oft nicht zeige – ich bin sehr, sehr dankbar, dass sie mir hilft», sagt Dominic, 29 Jahre alt und Autist. «Alleine würde ich das alles nicht hinbekommen.»
Das jahrelange Ringen um eine Cannabistherapie: die Suche nach einem Arzt, der Streit mit der Krankenversicherung, ein Gerichtsverfahren, eine Verurteilung. Schon viele gesunde Menschen wären damit wohl überfordert. Dominic, der auch ADHS und einen Gendefekt hat, erst recht.
Schmerzlevel? Schier unerträglich
Aber von vorn. Wie viele Autisten hat Dominic seit seiner Kindheit starke Verdauungsstörungen und deshalb schwerste Schmerzen bis in den Rücken. «Ohne Cannabis habe ich ein Schmerzlevel von sieben bis neun – auf einer Skala bis zehn», sagt er.
Pflaumensaft, Feigensaft, Leinsamen, Flohsamenschalen, literweise Abführmittel und opioidhaltige Schmerzmittel mit hohem Suchtpotenzial: Nichts wirkt. «Dominic war immer wieder depressiv, weil er mit seiner Lebenssituation und den ständigen Schmerzen nicht mehr zurechtgekommen ist», sagt seine Mutter Michaela.
Ich war generell immer gegen Drogen, und auch gegen das Kiffen. Aber es hat mir gutgetan.
Vor rund zehn Jahren hilft der Zufall: Ein Bekannter bietet ihm einen Joint an – vielleicht helfe der ja. «Ich war generell immer gegen Drogen, und auch gegen das Kiffen», sagt Dominic. «Aber es hat mir gutgetan.»
Cannabis entspannt nicht nur seine Muskeln, sondern auch seine Psyche. Seine autismusbedingten seelischen Zusammenbrüche verhindert es fast ganz. Inzwischen kifft er längst nicht mehr, sondern inhaliert den Dampf erhitzter Cannabisblüten durch ein medizinisches Spezialgerät. «Damit sinkt mein Schmerzlevel auf drei», sagt Dominic. «Das fühlt sich an wie ein kühlender Effekt auf meiner Wirbelsäule.» Nach dem ersten Joint fand Dominic jahrelang keinen Arzt, der ihm Cannabis verordnet hätte.
Wer stellt ein Rezept aus?
Schon vor 2022 war der Bezug von Cannabis auf Rezept möglich – zumindest mit Sondergenehmigung des Bundesamts für Gesundheit. Bis zur Gesetzesänderung gab es 2800 bis 3000 solcher Ausnahmen pro Jahr – bei rund 100'000 Patienten.
Seit August 2022 ist der medizinische Gebrauch von Cannabis auch ohne Ausnahmebewilligung erlaubt. Ärzte müssen die Verordnung lediglich in einer speziellen Datenbank des BAG eintragen. «Das ist ein gutes Gesetz, und wir sind sehr dankbar dafür», sagt Franziska Quadri, seit neun Jahren Präsidentin der Patientenorganisation Medical Cannabis Verein Schweiz und selbst Cannabispatientin. Und trotzdem gibt es ein Aber.
«Praktisch jeder Cannabispatient findet im ersten Moment keinen Arzt, der hilft», sagt Quadri. Cannabis sei ein kompliziertes Thema. «Man muss zuerst die richtige Einnahmeform finden und das richtige Produkt. Das ist nicht so einfach. Es ist verständlich, dass es da von Ärzteseite gewisse Vorbehalte gibt.»
Weder der Produzent noch der Apotheker darf Auskunft geben. Das darf nur der Arzt – aber der hat oft ja auch keine Erfahrung.
Cannabis mit mehr als einem Prozent THC gilt noch immer als Betäubungsmittel. So kommen Patienten oft nur schwer an Informationen. Welche Sorten und welche Wirkstoffgehalte helfen bei welchen Beschwerden? «Weder der Produzent noch der Apotheker darf Auskunft geben. Das darf nur der Arzt – aber der hat oft ja auch keine Erfahrung. Eine sehr absurde Situation für den Patienten», so Quadri.
Einziger Ausweg: dunkle Kanäle
Dominic blieb nur der Schwarzmarkt. Hier aber kann Cannabis verunreinigt sein – anders als in der Apotheke. «Mir ging es von Anfang an nicht gut damit, Cannabis auf der Strasse zu organisieren», sagt er. Er fühlte sich wie ein Schwerverbrecher.
Tatsächlich fliegt Dominic irgendwann auf. Der Strafbefehl im Schnellverfahren: gut 1400 Franken für Busse, Prozesskosten und Gebühren – plus 300 Franken Geldstrafe, für zwei Jahre ausgesetzt auf Bewährung. «Einen Widerspruch hätte er psychisch nicht durchgestanden», sagt seine Mutter.
1100 Franken sind für meinen Sohn mit seiner IV-Rente unbezahlbar.
Kurz nach der Gesetzeslockerung von 2022 verordnet Dominics Hausärztin ihm zum ersten Mal Cannabis. Doch jetzt hat er ein neues Problem. Seine Monatsdosis Cannabisblüten – Schwarzmarktpreis 450 bis 500 Franken – kostet in Apothekenqualität etwa 1100 Franken. «Unbezahlbar für Dominic mit seiner IV-Rente», sagt seine Mutter. Trotz Rezept und Empfehlung von mehreren Ärzten zahlt die Krankenversicherung nichts.
Viele müssen Therapie aus eigener Tasche zahlen
Etwa die Hälfte der Anträge auf Kostengutsprache scheitert, schätzt Patientenvertreterin Franziska Quadri. «Bei Cannabisextrakt, den man oral einnimmt, ist es noch ein bisschen einfacher. Aber gerade bei Cannabisblüten ist es echt schwierig und braucht sehr viel Eigeninitiative.» Im Verein habe es durchaus Mitglieder, die es bezahlt bekämen – aber die meisten bräuchten mehrere Anläufe, bis es so weit sei. «Und es gibt Fälle wie Dominic, die immer und immer wieder abgelehnt werden.»
Zwei Gründe nennt Dominics Krankenversicherung dafür: Cannabisblüten seien nicht als Medikament registriert – und die Evidenzlage sei «unzulänglich».
Wissenslücken sind noch gross
Damit ist man bei einem echten Knackpunkt: Die Wissenschaft hinkt dem Bedarf und der jahrhundertelangen Anwendungspraxis deutlich hinterher.
Klar ist: Cannabis ist kein Wundermittel. Es kann Nebenwirkungen verursachen, in hohen Dosen abhängig machen und Psychosen auslösen. Aber wie wirksam und sicher es ist? Dazu fehlen für die meisten Beschwerden grosse Studien nach höchsten wissenschaftlichen Standards.
Bislang reicht die Datenlage bei Spastiken durch Multiple Sklerose und bei bestimmten Epilepsien für eine Zulassung durch die Arzneimittelagentur Swissmedic.
Kostenübernahmen? Nur ausnahmsweise.
Das BAG stellt auf seiner Website klar, dass die gesetzliche Lockerung von 2022 nichts an der Finanzierung von Cannabistherapien ändert: «Die Behandlungen werden derzeit nur in Ausnahmefällen von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vergütet.»
Die vorliegende Evidenz zur Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit von Cannabisarzneimitteln sei ungenügend für eine generelle Vergütung – und es brauche bessere Studien.
Dominics Krankenversicherung bleibt hart
Noch einmal zu Dominic. Bislang bezahlt Pro Infirmis seine Cannabistherapie – allerdings befristet. Und wenn diese Regelung irgendwann ausläuft? «Dann kann er es sich entweder wieder illegal besorgen oder muss aufhören», sagt Mutter Michaela. Und wieder mit starken Schmerzen und psychischen Zusammenbrüchen leben.
Denn die Krankenversicherung bleibt trotz Dominics Widerspruch hart: «Wir verstehen, dass dies eine unzufriedenstellende Antwort ist und wir möchten die Wirksamkeit in Ihrem Fall nicht absprechen. Aber eine Leistungspflicht aus der Grund- und Zusatzversicherung besteht leider nicht.»
Was machen eigentlich Patienten, die selbst nicht die Kraft haben und niemanden kennen, der ihnen hilft? Die sind ja noch aufgeschmissener als ich!
Zur Not streite sie auch vor Gericht mit der Versicherung um die Kostengutsprache, sagt Dominics Mutter Michaela – vielleicht sogar gemeinsam mit anderen Betroffenen. «Ich bin bereit, bis aufs Äusserste zu kämpfen. Denn wir sind der Meinung, dass Patienten hier massiv alleine gelassen werden.» Und Dominic fragt: «Was machen eigentlich Patienten, die selbst nicht die Kraft haben und niemanden kennen, der ihnen hilft? Die sind ja noch aufgeschmissener als ich!»