Mehr als die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner der Niederlande wohnen unter dem Meeresspiegel – zehn von 17 Millionen Menschen. Wie gefährlich das sein kann, hat sich im Jahr 1953 bei der schwersten Nordseesturmflut des 20. Jahrhunderts gezeigt. «Unsere ganze Familie ist aufs Dach geklettert», erinnert sich die damals sechsjährige Ria Geluk, die im Dorf Ouwerkerk in der südwestlichen Provinz Zeeland lebt.
«Plötzlich bricht unmittelbar neben dem Haus der Stall ein.» Alle Kühe und Pferde ertrinken in der Flut, die Familie muss zusehen. Dann versuchen sie, sich selbst vor diesem Schicksal zu retten. Sie decken das Dach ab, in der Hoffnung, dass der Dachstock als Floss dienen könnte, falls auch das Wohnhaus unter ihnen zusammenbricht.
Ria Geluk und ihre Eltern haben Glück. Nach zwei Tagen Ausharren werden sie gerettet. «Meine Grosseltern aber, und meine Tante», sagt Geluk, «die ertranken im Haus nebenan». Mehr als 1800 Menschen kamen 1953 in dieser Sturmflut in den Niederlanden ums Leben.
Gefragt als Wasserbauer in aller Welt
Seither haben die Niederlande den Hochwasserschutz massiv ausgebaut. Sie haben die Dämme erhöht und der ganzen Küste entlang kilometerlange Sturmflutwehre gebaut. Beispielsweise wurde das Oosterschelde-Sturmflutwehr mitten durch einen neun kilometerlangen Meeresarm gebaut, in dem Ebbe und Flut herrscht.
Nach Protesten aus der Bevölkerung wurde das Speerwerk aus Umweltschutzgründen dann allerdings so konzipiert, dass das Wasser weiterhin rein- und rausfliessen kann. So bleibt das Ökosystem und damit auch die lukrative Austernzucht erhalten.
Der Bau dieser Anlage war so komplex, dass sie später von internationalen Ingenieuren als achtes technisches Weltwunder bezeichnet wurde. Das hat den Ruf der Niederlande als Nation von begnadeten Wasserbauern noch verstärkt.
Stolz sagt Ria Cheluk, die Überlebende der grossen Flutkatastrophe: «Unsere Leute sind überall auf der Welt gefragt: In Venedig, in Sankt Petersburg, in Louisiana und am Flughafen von Singapur – überall planen und bauen sie.»
Bisherige Dämme könnten bald ans Limit kommen
Doch nun kommt ein neues, viel grösseres Problem auf die Niederlande zu: die Erhöhung des Meeresspiegels wegen der Klimaerwärmung. Je nachdem wie viel CO₂ wir weiterhin ausstossen, steigt der Meeresspiegel bis im Jahr 2100 um 30 Zentimeter bis zu einem Meter – so die aktuelle Forschung. Damit gelangen viele teure Anlagen ans Limit. Auch das erst 1997 gebaute Maeslant-Sturmflutwehr beim Hafen von Rotterdam.
«Diese Anlage hält nur einen halben Meter Meeresspiegelanstieg aus», sagt Harold van Waveren. Er ist der Flutrisikoexperte bei der niederländischen Wasserbaubehörde Rijkswaterstaat.
Der Schutz der Küste kann aber verbessert werden, und zwar mit einem massiven Ausbau oder Umbau der bestehenden Anlagen. Das sei bereits jetzt in Planung, sagt van Waveren. «Mindestens zwei bis drei Meter Anstieg des Meeresspiegels sind bewältigbar, vermutlich sogar fünf Meter.»
Grösste Unsicherheit liegt in der Antarktis
Damit sind die Niederlande aber noch nicht auf der sicheren Seite. Denn es gibt grosse Unsicherheiten, wie schnell und wie hoch der Meeresspiegel tatsächlich ansteigen wird. Unklar ist insbesondere, wie sehr der Schmelzprozess der gigantischen Eismassen der Antarktis schon in Gang gekommen ist.
«Wir können deshalb auch einen zwei bis fünf Meter hohen Anstieg schon in den nächsten 127 Jahren nicht mit Sicherheit ausschliessen», sagt die Klimawissenschaftlerin Aimée Slangen vom niederländischen Meeresforschungsinstitut NIOZ. Sie hat am aktuellen IPCC-Bericht mitgearbeitet.
Damit nicht genug: Nach 2150 ist der Anstieg nicht gebannt. Das Meer wird weiter steigen. «Da ist sich die Wissenschaft sicher», sagt Slangen. Um zwei bis sechs Meter dürfte das Meer in den kommenden Jahrhunderten steigen, falls das 1.5-Grad-Klimaziel erreicht wird.
Falls nicht, sind es deutlich mehr. Die Forscherin hofft, dass die Weltgemeinschaft das Klimaproblem in den Griff bekommt, sodass die Niederlande mit der Erhöhung der bestehenden Dämme gerettet werden können.
Ein gigantischer Damm weit vor der Küste
«Das reicht nicht aus», sagt Dick Butijn, «wir brauchen einen neuen Damm 15 bis 20 Kilometer vor der bestehenden Küste». Butjin ist Elektroingenieur und Promotor des sogenannten de Haakse Seedeichs. Da, wo das Meer heute etwa 20 Meter tief ist, soll ein drei Kilometer breiter Wall aus Sand entstehen.
Dieser läge dann bis zu 20 Meter über dem heutigen Meeresspiegel. Zwischen der heutigen und der neuen Küste entstünden dann Seen. Mit der Zeit würden das Süsswasserseen, weil sie ja vom Rhein und von den anderen Flüssen mit Wasser gespiesen werden.
Wenn der Meeresspiegel um einige Meter angestiegen ist, kann der Rhein nicht mehr ins Meer fliessen. «Wir müssen ihn dann über den neuen Damm ins Meer hinaufpumpen», sagt Butijn. Schiffe sollten dank Schleusen weiterhin vom Meer in den Rhein gelangen können. Auch Aufstiegstreppen für die Fische und ökologische Ausgleichsflächen soll es geben.
Es wäre ein Jahrhundertprojekt. «Ich rechne mit Kosten von einer Milliarde Euro pro Jahr», sagt Butjin, «ein reiches Land wie die Niederlande kann sich das leisten». Derzeit klären externe Experten die Machbarkeit dieses Projektes ab.
Sollte der Meeresspiegel aber weiter steigen, müsste man den Damm weiter ausbauen. «Im Süden bis ins französische Calais, im Norden bis nach Schweden», sagt Butjin, «so hätten wir einen europäischen Schutzdeich für bis zu 15 Meter Meeresspiegelanstieg». Das sind Dimensionen, die heute kaum vorstellbar sind. Aber auch Belgien, Deutschland, Dänemark und der ganze Ostseeraum wären so vor dem Meeresspiegelanstieg geschützt.
«Politisch ist das heute nicht machbar»
Die Zeit scheint aber noch nicht reif für dieses gigantisches Projekt. «Politisch ist das heute nicht machbar», sagt Jeroen Aerts. Er ist Professor für Wasser- und Klimarisiken an der Freien Universität Amsterdam und berät Regierungen, Banken und Versicherungen weltweit beim Schutz vor Hochwasser.
Der Meeresspiegelanstieg sei noch zu wenig sichtbar, für die meisten noch zu wenig bedrohlich. «Wir sind mit so vielen anderen Krisen und Problemen konfrontiert», sagt Aerts, «so ein Deichprojekt steht derzeit nicht ernsthaft zur Debatte».
Langfristig gesehen, könnte das Projekt aber mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. «Man müsste es aber Stück für Stück verwirklichen», sagt Aerts. So könnte man zum Beispiel zuerst den Amsterdamer Flughafen Schiphol auf eine längliche Insel ins Meer verlegen. Darüber wird schon seit Langem diskutiert. Die Flughafeninsel wäre dann ein erster Baustein des Dammprojektes.
Aus ökologischer Sicht wäre der Riesendamm problematisch. «Tiere und Pflanzen im Küstengebiet würden mit dem Wegfall von Ebbe und Flut verschwinden», sagt Aimée Slangen vom Meeresforschungsinstitut NIOZ, «wir würden diese Ökosysteme weitgehend zerstören».
«Wir dürfen nicht mehr länger warten»
Der Promotor des Riesendeichs Dick Butijn hingegen sagt, letztlich gehe es um die Zukunft der Niederlande: «Wir dürfen nicht mehr länger warten. So ein Deich ist nicht in wenigen Jahrzehnten gebaut.» Und Ria Geluk, die Zeitzeugin der Jahrhundert-Sturmflut, betont ebenfalls: «Wir haben schon so viele Studien gemacht, jetzt müssen wir endlich handeln.»
Solange die Menschen trockene Füsse haben, sehen sie das Problem nicht.
Aber auch sie sieht, dass das Problem für die meisten Niederländerinnen und Niederländer nicht dringend wirkt. Erst um 20 Zentimeter ist der Meeresspiegel in den letzten 115 Jahren angestiegen. «Solange die Menschen trockene Füsse haben», sagt Geluk, «sehen sie das Problem nicht». Der derzeit extrem gute Schutz der niederländischen Küste lasse das Bewusstsein für die Gefahren schwinden.
Geluk will deshalb, dass die Erinnerungen an die Flutkatastrophe vor 70 Jahren nicht in Vergessenheit geraten. Zusammen mit anderen Beteiligten hat sie das sogenannte Watersnoodmuseum ins Leben gerufen. Es liegt in Ouwerkerk am Meer, da wo der letzte der zerstörten Deiche zehn Monate nach der verheerenden Flut wieder geschlossen werden konnte.
Die 76-jährige Frau steht neben dem Museum und schaut hinaus aufs Meer. Noch heute geht sie regelmässig schwimmen. «Ich liebe das Meer, es ist so schön», sagt sie und lässt den Blick schweifen, «aber wir dürfen nie vergessen, dass das Wasser immer stärker ist als wir».