Seit den 2000er-Jahren diskutieren Klimaforschende über Kipppunkte im Erdsystem. Kippen diese, so das Konzept, sei diese Veränderung unwiderruflich. Dazu zählten die Forscherinnen und Forscher etwa die sehr starke Abholzung des Amazonas-Regenwaldes oder das Abschmelzen der Eisschilde am Nord- und Südpol. Ein neuer Bericht, der «Global Tipping Points Report», fasst nun den aktuellen Forschungsstand zusammen.
Der Hauptautor des Berichts, Tim Lenton, zeigt sich an der laufenden Klimakonferenz in Dubai besorgt. Gegenüber SRF Wissen sagt der Professor für Klimawandel: «Kipppunkte können verheerende Dominoeffekte auslösen. Ganze Ökosysteme könnten verloren gehen und Grundnahrungsmittel nicht mehr angebaut werden. Die gesellschaftlichen Auswirkungen: Massenflucht, politische Instabilität und finanzieller Zusammenbruch.»
Doch was genau ist ein solcher Kipppunkt?
Wie ein Stuhl an einer steilen Klippe
Stellen wir uns vor, wir sitzen auf einem Stuhl, im Rücken eine hohe Felskante. Wir kippeln. Plötzlich fallen wir nach hinten und stürzen in die Tiefe. Eine grausige Vorstellung – die in der Analogie aber den sogenannten Kipppunkten entspricht. Erreichen wir mit unserem Verhalten (dem Kippeln) eine bestimmte Luft- oder Meerestemperatur oder Eisschmelze, lösen wir einen Kipppunkt aus.
Einmal ausgelöst, kann dieser nicht mehr aufgehalten werden. Er beschleunigt den Klimawandel massiv, was wiederum zu weiteren negativen Kipppunkten führen kann. Beim Sturz würden wir also schwere Steine in die Arme gedrückt bekommen und noch schneller in Richtung Boden fallen.
Aber: Es gibt Hoffnung. Es gibt Fallschirme, also positive Kipppunkte, die wir auslösen können und die uns abbremsen. Das gibt uns mehr Zeit, um Lösungen zu finden.
Die fünf wahrscheinlichsten negativen Kipppunkte: Das Verschwinden der tropischen Korallenriffe, der Zusammenbruch des Nordatlantikstroms und das Auftauen von weiteren Permafrostböden. Und die zwei Kipppunkte, die besonders besorgniserregend sind: der Kollaps der Eisschilde in der Westantarktis und in Grönland.
Die Folge: Ein Meeresanstieg von mehr als einem Meter weltweit, im schlechtesten Fall sogar bis zu zwei Meter bis Ende dieses Jahrhunderts. Zudem tauen gefrorene Böden auf, wodurch Treibhausgase freigesetzt werden, was wiederum die Erderwärmung verstärkt.
Wir brauchen nicht um die 1.5 Grad zu trauern, wenn wir sie verloren haben. Aber wir sollten um jedes 0.1 Grad Celsius kämpfen.
Wir wissen sehr genau, dass Kipppunkte existieren. Aber: Wie nahe wir an diesen Kipppunkten sind und wann der Moment da ist, wo es kippt, bleibt offen. Das sind Fragen zukünftiger Forschung.
Tim Lenton betont, dass wir nicht auf die exakten Daten warten können, da die Zeit drängt: «Wir brauchen nicht um die 1.5 Grad zu trauern, wenn wir sie verloren haben. Aber wir sollten um jedes 0.1 Grad Celsius kämpfen.»
Hoffnung, oder: mögliche Fallschirme
Und Hoffnung gibt es. Denn wenn wir jetzt drastische Massnahmen ergreifen, wie autofreie Städte oder den weltweiten Wandel von fossilen zu erneuerbaren Energien, könnten wir den freien Fall von der Klippe verlangsamen. Lenton selbst sei überrascht gewesen, dass es für solche positiven Kipppunkte vermutlich mehr Möglichkeiten gibt als bisher angenommen.
Doch soll die Sorge vor Kipppunkten nicht von aktuellen Problemen ablenken. Denn bereits heute sehen wir schlimme Folgen des Klimawandels wie extreme Temperaturen, Trockenheit und Dürre.