So oft es nur geht, hänge ich am Felsen oder in der Boulderhalle. Klettern, Bouldern, Skifahren – ich würde mich als recht sportlichen Menschen bezeichnen. Trotz, oder vielleicht auch gerade wegen des vielen Sports, macht sich immer wieder mein unterer Rücken bemerkbar. Es sind leichte, aber nervige Schmerzen. Damit bin ich nicht allein: In der Schweiz leiden über zwei Drittel der Bevölkerung an sogenannten unspezifischen Rückenschmerzen. Ein regelrechtes Volksleiden also.
Für mich wäre es eigentlich schon lange an der Zeit, dies mit einem Physiotherapeuten anzuschauen – nur habe ich das bis jetzt immer hinausgeschoben (auch damit bin ich wohl nicht ganz allein).
Bei der Recherche für die Sendung «KI in der Medizin» stosse ich auf ein Physio-Programm, das man zu Hause machen kann – unter Anleitung einer künstlichen Intelligenz. Zwei ETH-Absolventen haben das Programm entwickelt.
Ihr Versprechen: orts- und zeitunabhängig trainieren. Im Grunde klingt das genau richtig für mich und ich entscheide mich, es auszuprobieren. Ich mache den Selbstversuch und ich gehe der Frage nach, wie alltagstauglich das KI-Training für mich ist.
Der Gang zur Physiotherapie bleibt Pflicht
Bevor das Training mit der künstlichen Intelligenz losgeht, habe ich einen Termin bei einer Physiotherapeutin aus Fleisch und Blut. Das ist ein fixer Bestandteil, wenn man mit der KI-Physio-Anwendung der Firma Akina trainieren will.
Von Physiotherapeutin Fabienne Büchi bekomme ich ein Login und los gehts zuhause: nur ich, mein Laptop und die künstliche Intelligenz als meine Begleiterin.
KI-Physio – so funktionierts
Die KI von Akina basiert auf der Fähigkeit, Bewegungen in Echtzeit zu erkennen und zu interpretieren. Ich werde während dem Training von meiner Laptop-Kamera gefilmt. In den Videobildern identifiziert die KI charakteristische Körperpunkte wie Schultern, Hüften oder Knie.
Mittels dieser Punkte berechnet die KI laufend meine Körperhaltung und übersetzt meine Positionen 30 mal pro Sekunde in räumliche Koordinatendaten. Daraus ergibt sich eine detaillierte Erfassung meiner Bewegung in Echtzeit. Diese Daten vergleicht die KI mit einem umfangreichen Datensatz von physiotherapeutischen Bewegungsabläufen, mit denen das System trainiert wurde. So kann die KI feststellen, welche Bewegung ich gerade ausführe, und viel wichtiger: ob ich meine Übung gerade korrekt mache. Sie erkennt also Fehler und korrigiert direkt.
Gewöhnungsbedürftig, aber geduldig
Laptop auf, Kamera an, «Training starten»: Ich folge den Anweisungen der sympathischen, aber computer-mässigen Stimme. Das KI-Physioprogramm fühlt sich im ersten Moment eher unpersönlich an, obwohl ich von Fabienne Büchi weiss, dass das Programm spezifisch für mich konzipiert ist.
Die Zusammenarbeit mit der KI hat ihre Tücken: Je nachdem, in welchem Winkel zur Kamera ich mich positioniere, hat die Anwendung Mühe, meine Bewegung oder Position zu erkennen. Die KI-Stimme bittet mich dann jeweils höflich, mich anders hinzustellen. Bis ich diese Anweisungen verstehe und weiss, was mein algorithmischer Therapeut meint, braucht es etwas Übung.
Das Ganze ist zwar gewöhnungsbedürftig, doch Sitzung für Sitzung wird mir wohler in dem Setting. Ich werde vertrauter mit der Art der Anweisungen, verstehe, was die KI direkt erkennt und mir live zurückmeldet.
Und immer mehr erkenne ich auch Vorteile: Die KI bleibt stets top motiviert und ist nicht beleidigt, auch wenn ich mal für fünf Minuten aus dem Bild verschwinde. Geduldig wartet sie und der Timer läuft erst weiter, wenn ich wieder richtig positioniert bin und gut sichtbar vor der Kamera stehe. Die KI erkennt live, wie und ob ich trainiere. Das gefällt mir: Ich kann nicht «cheaten» und muss dranbleiben.
Ständig überwacht?
Die KI ist auch zu kleinen Scherzen aufgelegt und gibt schon mal Anweisungen wie: «Deine Frisur ist egal.» Lustig – gleichzeitig aber auch ein bisschen unheimlich. Ich fühle mich beobachtet.
Umso mehr bin ich froh zu wissen, dass meine Videobilder nicht aufgezeichnet werden. Zumindest garantiert das die Firma Akina, die hinter der Anwendung steckt. Akina halte sich an das neue Datenschutzgesetz der Schweiz.
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Die Anwendung erfasst gemäss Akina immer nur jene Daten, die zur Erfüllung des jeweiligen Zwecks erforderlich sind – also meine Körperhaltungen während der Physiotherapie zuhause. Übermittelt werden meine Trainingsdaten einzig der Physiotherapeutin Fabienne Büchi – allerdings nur meine Bewegungsmuster und -abläufe, so dass sie mir später Feedback auf meine Übungen geben kann.
So verschwindet auch das anfängliche Gefühl, mich beobachtet zu fühlen. Mehr und mehr schätze ich sogar, wie die KI minutiös darauf achtet, dass ich meine Übungen sauber ausführe.
Orts- und zeitunabhängig? Naja.
Das Versprechen des Züricher Startups: orts- und zeitunabhängig trainieren. Das hat mich von Anfang an angesprochen. Während des Testzeitraums habe ich aber gemerkt: Ganz so einfach ist das nicht.
Währenddem ich die KI teste, habe ich Ferien in Spanien – Bouldern mit Freunden. Ich hatte mir fest vorgenommen, mein Physioprogramm auch dort durchzuziehen. Doch schnell wird klar: Draussen habe ich kein Internet und im Airbnb ist kein Platz, um den Laptop so aufzustellen, dass ich komplett im Bild bin. Dies zeigt mir, dass die Flexibilität der KI-Anwendung zwar gross ist, aber dennoch gewisse Grenzen hat.
Ganz ohne Mensch gehts nicht
Es ist schon faszinierend, wie die KI meine Bewegungen registriert und mir zum richtigen Timing präzises Feedback gibt. Doch so hilfreich und aufschlussreich das Feedback der KI auch erscheint, muss ich ehrlich zugeben: Wirklich ernst nehme ich es erst, wenn Fabienne Büchi ihr eigenes Feedback gibt
Ich finde es so wichtig, dass diese Interaktion zwischen mir und den Patientinnen nach wie vor da ist.
Sie schickt mir nach dem Training via Textnachrichten laufend Tipps zu den ausgeführten Übungen. Ihre persönliche Einschätzung, so von Mensch zu Mensch, macht den entscheidenden Unterschied für mich. Ganz ähnlich sieht das die Physiotherapeutin: «Ich finde es so wichtig, dass diese Interaktion zwischen mir und den Patientinnen nach wie vor da ist. Es gibt Dinge, die eine KI nicht kann.» So bleibe es noch immer ihre Aufgabe, das Feedback der KI für die Patienten einzuordnen.
KI vs. Mensch: Die Schlussbilanz
Insgesamt war meine Erfahrung mit der KI-Anwendung positiv. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten, mich an die neue Technologie zu gewöhnen, bietet die Anwendung viele Vorteile gegenüber traditionellen Trainingsmethoden. Die Klarheit der Anweisungen in Echtzeit, die Anpassung an meine Bedürfnisse und die Verfügbarkeit machten das Physioprogramm einfach. Trotzdem hat die Technologie Grenzen.
Mir wurde bewusst, dass eine KI das Vertrauen, welches ich in Fabienne Büchi als Physiotherapeutin habe, und die persönliche Interaktion nicht ersetzen kann. Eine grosse körperliche Veränderung spüre ich zwar noch nicht. Aber jetzt, wo ich mich endlich zu einer Physiotherapie durchgerungen habe, fahre ich mit dem KI-Programm fort – auch wenn die KI bei mir gemischte Gefühle hinterlässt.