Zum Inhalt springen

«Das Christkind kommt» Weihnachtslügen der Eltern – zauberhaft oder problematisch?

Weihnachtsmann, Christkind oder Wichtel (Achtung Spoiler): Es gibt sie gar nicht, obwohl Erwachsene etwas anderes behaupten. Wann sollten Eltern mit der Wahrheit herausrücken? Und warum Weihnachtsmärchen eine Chance für kritisches Denken sind, erklärt der Entwicklungspsychologe Moritz Daum.

Als Kind auf den «Samichlous» zu warten oder magische Verzückung zu spüren, wenn plötzlich Geschenke unter dem Tannenbaum liegen: Viele Erwachsene in unseren westlichen Kulturen haben wohl solche Erinnerungen aus ihrer Kindheit. Oft leben sie diese weihnachtlichen Rituale und Traditionen später selbst weiter – und flunkern, was das Zeug hält, um sie plausibel zu machen.

Böse Zungen könnten es als transgenerationale Lügenbräuche bezeichnen. Und die haben durchaus einen Wert: Das Weiterführen der Rituale könne Vorfreude und weitere positive Emotionen bei den Beteiligten auslösen, zeigt ein Review. Zudem könne dadurch der Zusammenhalt in der Familie gestärkt werden.

Audio
Warum Rituale nicht nur an Weihnachten wichtig sind
aus Ratgeber vom 18.12.2023. Bild: Imago Images / Funke Foto Services
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 38 Sekunden.

Entwicklungsstand des Kindes beachten

Wenn es also manchmal scheint, als hätten Erwachsene genauso oder gar mehr Freude an dem Weihnachtszauber – gedacht ist er meist für die Jüngeren. Doch was macht die ganze Flunkerei mit den Kindern?

«Geschichten und Märchen zu erfinden, ist nicht per se falsch – auch ausserhalb der Weihnachtszeit nicht», sagt der Entwicklungspsychologe Moritz Daum, der an der Universität Zürich forscht und lehrt. Das schade Kindern nicht. «Wichtig ist es, darauf zu achten, wo das Kind in seiner Entwicklung steht», ergänzt Daum.

Kinder sind nicht so leichtgläubig, wie Sie vielleicht meinen

Box aufklappen Box zuklappen

Seit Jahrhunderten werden Kinder als naiv dargestellt, die kaum zwischen Fantasie und Realität unterscheiden könnten. So stellte auch der Schweizer Pionier der kognitiven Entwicklungspsychologie Jean Piaget die These auf, dass Kinder erst im Alter von etwa zwölf Jahren zu dieser Unterscheidung wirklich fähig seien.

Neuere Forschung deutet aber auf etwas anderes hin. Kinder können bereits ab dem Alter von drei Jahren in gewissen Situationen zwischen Vorstellungen und Realität unterschieden. Das zeigt sich auch in einer bestimmten Art des Spielens, dem sogenannten «pretend play». Bereits Kleinkinder können so tun, als ob eine ausgedachte Geschichte Realität sei. Sie können flexibel aus dem Modus der Vortäuschung in die Normalität wechseln und später wieder zurück switchen.

Trotzdem glauben wohl die meisten Kleinkinder an den Weihnachtsmann und andere Wesen, wenn sie mit den entsprechenden Ritualen und Verhaltensweisen sozialisiert wurden. Dabei spielt es eine entscheidende Rolle, in welchem Kontext sie diese Fantasiefiguren kennenlernen. So glauben Kinder eher an die Existenz eines Scheintiers namens «Surnit», wenn dieses im Zusammenhang mit Ärztinnen und Wissenschaftlern statt mit Drachen und Geistern eingeführt wurde.

Ein anderes kreatives Experiment führten die Forscherin Jacqueline D. Woolley und ihr Team durch. Wenn Kinder in der Halloween-Nacht ihre unbeliebtesten Süssigkeiten hinstellten und am nächsten Morgen stattdessen ein Spielzeug fanden, glaubten sie eher an die Süssigkeitshexe, als wenn sie nicht von ihr besucht wurden. Dies trifft insbesondere bei den älteren Kindern zu. Die Autoren argumentieren, dass die älteren Kinder eher diese Beweise nutzten, um die Existenz der Hexe zu überprüfen.

Bereits im zweiten Lebensjahr beginnen Kinder, ganz einfache Fantasien zu spielen. Zum Beispiel verwenden sie einen Löffel als Auto oder fliegen auf einem Besen. Mit zunehmendem Alter wird auch das sogenannte «pretend play» komplexer und Kinder tauchen in ganze Fantasiewelten ein. Das zeige, wie stark das Bedürfnis nach kreativem Spielen sei, sagt Daum. Und wie gross die Lust an ausgedachten Welten.

Vom Märchen zur absichtlichen Täuschung

Kinder glauben an die Weihnachtswesen bis sie etwa fünf, sechs Jahre alt sind – da spielt auch eine Rolle, ob das ältere Geschwister schon mit der Wahrheit herausgeplatzt ist. Wenn das Kind beginnt, kritische Fragen zu stellen, wird es wichtig: «Wenn Erwachsene dann immer noch an ihren Märchen festhalten, werden diese zu absichtlichen Täuschungen», so Daum. Nun merkt das Kind, dass es bewusst angelogen wird.

«Im schlimmsten Fall fühlt sich das Kind dadurch nicht ernst genommen und hilflos.» Dies könne die Beziehung, das Vertrauen sowie das Selbstbewusstsein des Kindes längerfristig schädigen. Und dass Erwachsene zu unglaubwürdigen Vorbildern werden, wenn sie auf einmal selbst lügen, kommt noch dazu.

Deshalb sei es sehr wichtig, dass sich die Eltern und die Bezugspersonen mit ihren Kindern zusammen entwickeln: Statt sich von den Fragen ertappt zu fühlen, sollten sie den Entwicklungsschritt des Kindes anerkennen, sagt Daum. Sein Tipp: Ehrlichkeit. Wenn Weihnachtsmärchen aufgedeckt werden, sind teilweise gar die Eltern enttäuschter sind als ihre Kinder, wie Studien zeigen. Kindern kommen mit Enthüllungen gut zurecht.

Im Prinzip ist Weihnachten für Kinder eine Schulung fürs kritische Denken.
Autor: Moritz Daum Entwicklungspsychologe

«Im Prinzip ist Weihnachten für Kinder eine Schulung fürs kritische Denken», sagt Daum. Wer die Fragen des Kindes aufrichtig beantworte, fördere diese wichtige Fähigkeit. Kann es das Christkind überhaupt geben, wenn ich es noch nie gesehen habe? Kinder lernen, Sachverhalte zu überprüfen und kausale Zusammenhänge zu verstehen. So gesehen wird Weihnachten zum Fest des kritischen Denkens.

Weihnachts-Tipp: Rituale gemeinsam ausdenken

Box aufklappen Box zuklappen

Der Entwicklungspsychologe Moritz Daum sieht noch eine weitere Chance: Kinder aktiv in die Gestaltung der Weihnachtsrituale einzubeziehen. Das fördert ihr Selbstvertrauen und sie erleben dabei, dass sie in ihren Wünschen ernst genommen werden.

Radio SRF, Ratgeber, 18.12.2023, 11:10 Uhr

Meistgelesene Artikel