Wann haben Sie sich zum ersten Mal alt gefühlt? Bei der Entdeckung der ersten grauen Haare? Oder bei einem unerwarteten Erfolg durch langjähriges Erfahrungswissen? Beim Kauf der ersten Lesebrille oder beim Auszug der Kinder aus dem Haus? Beim «Happy Birthday», der nicht so happy war?
So alt, wie man sich fühlt?
Vielleicht meinen Sie, das eigene Gefühl hilft bei der Frage weiter: Viele behaupten ja trotzig, man sei so alt wie man sich fühle. Das klingt auf Anhieb tröstlich. Das Dumme ist nur: Das sagen alle erst dann, wenn sie schon ziemlich alt aussehen.
Beim «Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg» erübrigt sich die Frage. Klar: Die Romanfigur ist ein Alter, der leichtfertig einen Oberschenkelhalsbruch oder gar Schlimmeres riskiert. Wer über eine dreistellige Alterszahl verfügt, lebt wohl ausserhalb unserer Titelfrage. Aus die Maus mit der Anti-Aging-Kampfzone!
«Bin ich jetzt schon ein bisschen alt?»
Aber wie steht es mit dem 84-jährigen Giorgio Armani, der im Burj Khalifa zu Dubai ein Designhotel lancierte? Ist alt, wer so etwas tut? «Bin ich jetzt schon ein bisschen alt?», fragte mein Enkel, als er die fünf Kerzlein auf seiner Geburtstagstorte ausblies.
Experten gehen nüchterner an die Altersfrage heran. Sie sprechen unter anderem bei 40-Jährigen von den «alten Jungen» und bei 50-Jährigen von «jungen Alten».
Unterschiedliche Ansichten
Verschiedene Disziplinen wie die Biologie, Soziologie oder Psychologie nähern sich der Frage sehr unterschiedlich. Bei den Soziologen beginnt das Alter da, wo die Arbeit aufhört: mit dem Rentenalter.
In der Gerontologie, der Altersforschung, spricht man von vier Altersphasen:
- Erstens: die Phase der späten beruflichen Aktivität und des Überganges in den nachberuflichen Lebensabschnitt
- Zweitens: die Phase des autonomen, aktiven Rentenalters
- Drittens: die Phase erhöhter Fragilität
- Viertens: die Phase der Pflegebedürftigkeit
Entwicklungspsychologen beobachten eine interessante Verschiebung: Je länger wir leben, desto länger fühlen wir uns noch nicht alt.
Sicher ist auch: Beinahe alle Menschen möchten möglichst lange leben. Aber kaum jemand möchte wirklich alt sein. Das wundert nicht: Alter hat in unserer Kultur kein gutes Image.
Wohlhabende Alte als eigene Kategorie
Es sei denn, die Alten sind gut betucht. So wie die «Sayahs». Der schmissige Begriff ist eine Abkürzung: «Silver Agers, Young at Heart». So bezeichnen Marketingstrategen wohlhabende Alte mit Freude am Konsum.
«Young at heart» – da ist sie wieder: die Differenz zwischen biographischem und gefühltem Alter.
«Young at heart» kann auch ein medizinischer Befund sein. Ein 60-Jähriger kann eine Blutpumpe eines 40-Jährigen haben – und umgekehrt. Die Titelfrage ist also ziemlich knifflig.
Neue Herausforderungen
Sicher stellt uns unsere erhöhte Lebenserwartung vor neue Herausforderungen: Ist die Altersvorsorge nach wie vor so umsetzbar? Wie muss das Rentenalter angepasst werden? Wie muss sich die Gesundheitsversorgung verändern, wenn immer mehr Menschen lange mit chronischen Krankheiten leben können?
Aber sind diese Probleme Grund genug, das Alter einerseits einfach nur schlecht zu reden? Oder andererseits verleugnend zu verklären? Anti-Aging à tout prix?
Vier gerontologische Wahrheiten
Um ein realistisches Bild vom Alter zu bekommen, ist es sinnvoll, vier gerontologische Wahrheiten zur Kenntnis zu nehmen:
- Die erste Wahrheit: Unsere Lebenserwartung ist so hoch wie nie zuvor. Wir hier können statistisch gesehen davon ausgehen, dass wir nach der Pensionierung noch mal deutlich länger leben als Kinder- und Jugendjahre zusammengenommen.
- Die zweite Wahrheit: Die erste Wahrheit ruft dazu auf, den Alltag im Alter selbstbestimmt zu gestalten. Wer darauf wartet, dass sich die ersten Zipperlein bemerkbar machen und es ohne Rollator nicht mehr geht, verpasst eine Chance. Gerontologie-Experten und Psychologinnen raten deshalb unisono: Werden Sie zu Ihrem eigenen Lebensunternehmer!
- Die dritte Wahrheit: Nie sind Menschen so unterschiedlich, wie wenn sie alt sind. Es gibt 80-Jährige, die am New-York-Marathon teilnehmen. Andere im gleichen Alter leben, von Demenz betroffen, in Pflegeheimen in ihrer eigenen Welt. Man kann sagen: Zehn 3-Jährige oder auch zehn 20-Jährige sind sich deutlich ähnlicher als zehn 80-Jährige. Die vorherrschenden Altersbilder werden dieser Vielfalt nicht gerecht.
- Die vierte Wahrheit: Mit steigender Lebenserwartung verlängert sich auch die Zeit des Miteinanders verschiedener Generationen. Nie zuvor gab es eine so lange Phase der Grosselternschaft. Und nie zuvor gab es so viele Urgrosskinder. François Höpflinger, der bekannte Schweizer Alterssoziologe, spricht bildhaft von «Bohnenstangenfamilien». Unsere Gesellschaft entwickelt sich mehr und mehr zu einer lang andauernden Drei-Generationen- oder allmählich sogar zu einer Vier-Generationen-Gesellschaft. Dieses historische Novum ist spektakulär.
Der lange Weg
Es kann also ganz schön spannend sein, ganz schön alt zu werden. Vielleicht hilft ja Ashley Montagu, den Weg zu bereiten. Der britisch-amerikanische Anthropologe und Entwicklungspsychologe hat nämlich folgenden Satz hinterlassen: «Ziel des Menschen könnte sein, möglichst jung zu sterben und das so spät wie möglich.»