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Genetische Studien zeigen, wie unsere Vorfahren die Eiszeit überstanden haben
Aus Wissenschaftsmagazin vom 04.03.2023. Bild: Tom Bjoerklund
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Erbgut alter Jäger und Sammler Nur wenige frühe Europäer und Europäerinnen entkamen der Eishölle

Klimaflüchtlinge gab es schon vor Zehntausenden Jahren. Neue Erbgutanalysen von Eiszeit-Menschen in Europa zeigen, auf welchen Wanderrouten sie das Kältemaximum überlebten, warum Italien eine Todesfalle war oder: Wie der frühere Klimawandel wohl unsere Augenfarbe mitbestimmt.

Als die ersten modernen Menschen vor 45'000 Jahren nach Europa kamen, gab es keinen warmen Empfang. Im Gegenteil: Es war und blieb ausgesprochen kalt. Vor 25'000 bis 19'000 Jahren erreichte die damalige Eiszeit dann einen Höhepunkt, das sogenannte letzte glaziale Maximum. Grosse Teile Europas lagen damals unter einem dicken Eisschild.

Aus diesen harschen Zeiten stammen die älteren von 356 menschlichen Fossilien aus ganz Europa, deren Erbgut ein internationales Team analysiert und im Magazin Nature publiziert hat. Dieser wohl grösste DNA-Datensatz europäischer Jäger und Sammler zeigt erstmals, dass einige der damals noch jungen Europa-Zuzüger und -Zuzügerinnen sogar die Extremphase des letzten glazialen Maximums überlebt haben.

Sie schufen dicke Venusfigürchen

Die Menschen, die das schafften, gehören zur Kultur des Gravettien. Sie schufen wunderschöne Venusfigürchen mit grossen Brüsten und ausladendem Po und waren vor 32'000 bis 24'000 Jahren in Europa weit verbreitet. Trotz starker kultureller Ähnlichkeiten waren sie genetisch zwei unterschiedliche Populationen, zeigt die neue Studie: Die eine lebte eher im Westen, die andere eher im Osten Europas.

In Spanien überlebt, in Italien gestorben

Vom Klima gezwungen, wanderten beide Populationen südwärts. Überlebt haben aber nur die westlicheren Graviettier. «Sie fanden klimatisch günstige Bedingungen in Spanien und Westfrankreich. Hier trotzten sie der kältesten Phase der Eiszeit», sagt vom Forschungsteam Cosimo Posth, Paläogenetiker an der Universität Tübingen. In ihrer neuen Heimat entwickelten sie, nun bekannt als Solutrean-Kultur, auch neue Steinwerkzeuge, zum Teil so fein, dass sie fast wie Glas wirken.    

Auf dem Bild ist eine Illustration eines Jägers und einer Sammlerin zu sehen.
Legende: Trotz einiger ähnlicher kultureller Merkmale unterschieden sich die gravettischen Populationen aus West- und Ost-/Südeuropa genetisch voneinander. Die westgravettische Population (links) überlebte während des letzten glazialen Maximums, während die östlichen und südlichen gravettischen Populationen verschwanden. Michelle O‘Reilly and Laurent Klaric, Benoit Clarys

Weniger Glück hatten die Gravettier aus den östlicheren Gebieten Europas. Sie zogen zwar auch nach Süden – nach Italien. Doch anders als bisher gedacht, bot Italien während der frostigsten Eiszeitphase wohl keine überlebenstauglichen Bedingungen mehr. Die Gravettier in Italien jedenfalls sind alle gestorben.

Frühe Ahnen mit dunkler Haut und blauen Augen

Erst am Ende des letzten glazialen Maximums, als es langsam wieder wärmer wurde, wurde Italien neu besiedelt, von den Epigravettiern. Die Menschen dieser Kultur kamen vom Balkan und sahen ungewöhnlich aus, sagt Cosimo Posth, der Erstautor der Nature-Studie: «Sie hatten noch dunkle Haut, doch – erstmals in Europa – blaue Augen.»

Ihre Nachfahren begannen sich vor 14'000 Jahren in ganz Europa nördlich von Italien auszubreiten, wohl wiederum angetrieben vom Klimawandel. Die Gletscher zogen sich damals stark zurück und es wuchsen in Europa – von Süden nach Norden – neue Wälder. «Die Epigravettier sind wohl mitgewandert mit diesen sich ausdehnenden Wäldern, die ihnen Nahrung und Beute boten», vermutet der Paläogenetiker, «und sie haben dabei andere Kulturen ersetzt.»

Lange waren die Epigravettier die dominierende Population in Europa. Noch heute tragen wir 10 bis 20 Prozent Erbgut in uns, das auf sie zurückgeht. Vor 8000 Jahren wurden dann aber alle Jäger- und Sammlergruppen immer mehr zurückgedrängt. Damals breiteten sich von Anatolien aus die ersten Ackerbauern mit ihrer sesshaften Lebensweise in Europa aus, langsam aber stetig.

Wissenschaftsmagazin, 04.03.2023, 12:40 Uhr

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