- Unsere Erinnerungen funktionieren wie eine Wikipedia-Seite. Sie selbst können sie verändern, aber andere können das auch.
- Laut einer US-amerikanischen Studie legt jeder vierte unschuldig Verurteilte ein Geständnis für eine Tat ab, die er nicht begangen hat.
- Die Organisation «Innocence Project» unterstützt unschuldig Verurteilte mit DNA-Analysen und initiiert so die Wiederaufnahme von Prozessen.
Pure Skepsis
Rechtspsychologin Julia Shaw behauptet in ihrem Buch «Das trügerische Gedächtnis», dass das, was wir erinnern, nicht unbedingt etwas beschreibt, was wirklich auch so geschah.
«Ich bin der Meinung, dass keine Erinnerung der Wahrheit entspricht», erläutert die 30-jährige Psychologin, die an der Londoner South Bank University forscht und angehende Juristen und Forensiker unterrichtet. Ihr Büro ist kahl, kein Schnickschnack ziert den Schreibtisch, keine Erinnerungsfotos. Hier wird pure Skepsis gelebt.
Unwahres schleicht sich ein
«Man muss Wahrheit anders definieren, wenn man versteht, wie Erinnerung funktioniert. Fiktionen können sich unbewusst in die eigene Identität einschleichen», fährt Julia Shaw fort.
Das ist erschreckend, wenn man nicht nur im Moment lebt, sondern sich auch über die eigene Vergangenheit definiert. Über das, was man bereits erlebt, was einen geprägt hat.
Nostalgisches Schwärmen
Gedanken wie «Ich habe damals erlebt, wie…» sind nicht nur Anekdoten und nostalgisches Schwärmen, sondern konkrete Auseinandersetzungen mit der Gegenwart. Und all das entspricht nicht der Wahrheit?
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Genau diesen Zweifel fördert Julia Shaws Buch detailreich. Sie beschreibt die neuesten neurologischen Forschungen und zeigt, welchen Einflüssen von innen, wie von aussen, unser Gedächtnis ausgesetzt ist.
Wie ein Wikipedia-Seite
«Sich zu erinnern ist ein sozialer Prozess», erläutert sie. «Die Neurowissenschaften zeigen, wie flexibel das Gehirn ist. Unsere Erinnerung ist wie eine Wikipedia-Seite. Sie selbst können sie verändern, aber andere können das auch. Die Netzwerke, die das Gedächtnis bilden, verändern sich durch soziale Prozesse.»
Wenn Tante Emma sich an ihre Schulzeit falsch erinnert, mag das keine grossen Konsequenzen haben. Vor Gericht aber, bei Zeugenaussagen in einem Strafprozess, können falsche Erinnerungen jedoch fatale Folgen haben. Falsche Zeugenaussagen, falsche Beschuldigungen führen nicht selten zur Verurteilung von Menschen, die eigentlich unschuldig sind.
Wenn Unschuldige ein Geständnis ablegen
In den USA konnte das «Innocence Project» in den letzten Jahren die Unschuld von über 300 Strafgefangenen beweisen. Neuartige DNA-Tests zeigten eindeutig, dass sie nicht die Täter sein konnten. Doch warum waren sie verurteilt worden?
In vielen Fällen waren mangelnde Ermittlungsmethoden die Ursache. Viele der Angeklagten konnten sich keinen guten Anwalt leisten, was vor amerikanischen Gerichten zu einem Nachteil werden kann.
Jedoch in 70 Prozent der Fälle waren falsche Erinnerungen Grund für die Verurteilung: Zeugen sagten falsch aus, Opfer identifizierten Unschuldige als Täter. Und schlimmer noch: Jeder vierte unschuldig Verurteilte hatte ein Geständnis abgelegt für eine Tat, die er nicht begangen hatte.
Falsche Erinnerungen kreieren
Wie man Menschen Erinnerungen an nicht begangene Straftaten in deren Gedächtnis implantieren kann, beschreibt Julia Shaw anhand eines Experiments, das sie selbst mit Studenten durchführte.
Sie konfrontierte die Testpersonen mit zwei Ereignissen aus deren Vergangenheit: Eines hatte stattgefunden, das andere war frei erfunden.
Nach drei Sitzungen erinnerten sich 70 Prozent der Testpersonen auch an das fiktive Ereignis. Julia Shaw hatte sie nur mit wenigen Einzelheiten konfrontiert, mit Details über die angebliche Straftat – und sie dann auf eine Erinnerungsreise geschickt. Das Resultat: eine falsche Erinnerung.
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Für die Justiz sind diese Erkenntnisse fundamental wichtig, wenn Zeugenaussagen auf ihre Glaubwürdigkeit überprüft werden müssen. Doch was bedeuten sie im «normalen Leben»? Wenn man sich fragt, wer bin ich? Worauf basiert unsere Identität, wenn uns das Gedächtnis täuscht?
Auch für diese Verunsicherung liefert Julia Shaws Buch eine Antwort. Je mehr wir wissen, wie unser Gedächtnis funktioniert, umso besser können wir mit unseren Erinnerungen umgehen.
Exaktes ist irrelevant
Sind Erinnerungen unverrückbare Fakten? Die Wahrheit? Oder sind sie bewegliche Fragmente, die in der Gegenwart neu geschaffen, neu interpretiert und neu erzählt werden?
Julia Shaw meint dazu lapidar: «Das Faktische ist vielleicht gar nicht so wichtig, weil es in unserem Leben so viele Momente gibt, die zusammen unser Leben bilden. Und wir wissen, dass wir unsere Mutter lieben. Wir wissen, dass bestimmte Momente uns definiert haben. Aber was genau, was exakt in diesen Momenten geschah, ist vielleicht irrelevant. Wir wissen, dass es wichtig war, dass es prägend war. Und das reicht.»