Es ist ein juristischer Langstreckenlauf. Die südafrikanische Mittelstreckenläuferin Caster Semenya kämpft seit Jahren gegen die Testosteron-Regel, mit der der Leichtathletik-Weltverband WA (früher IAAF) «zum Schutz des fairen Wettbewerbs in der Frauenkategorie» bestimmt, wann eine Sportlerin eine Frau ist.
Trennlinie ist der Testosteronwert. Dieser ist bei Semenya so hoch, dass die zweimalige 800-Meter-Olympiasiegerin und Weltmeisterin an internationalen Wettkämpfen nicht mehr bei den Frauen laufen darf. Ausser sie senkt ihren natürlichen Testosteronspiegel künstlich mit Medikamenten unter den geforderten Grenzwert von 2,5 Nanomol pro Liter (nmol/l) Blut. Das will Caster Semenya nicht und darf daher seit 2019 nicht mehr starten.
Testosteronlevel ist zu simpel
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stützt Semenyas Widerstand. Ihre Forderungen verdienten eine sorgfältigere Prüfung als zuvor am Internationalen Sportgerichtshof CAS in Lausanne und am Schweizer Bundesgericht. Auch aus wissenschaftlicher Sicht ist es unsorgfältig und zu simpel, den Testosteronlevel zur alles entscheidenden Gerechtigkeitslinie zu erheben. Zudem sind die Studien, auf die sich der WA stützt, mangelhaft.
Projektion und Wirklichkeit
Testosteron steht für Männlichkeit, Muskeln, Macht. Tatsächlich ist es aber weit mehr: ein komplexer biochemischer Stoff, den wir alle in uns tragen. Mit Spitzenwerten um die Geburt herum und in der Pubertät. Die Bandbreite ist gross: 95 Prozent der Frauen haben einen Wert unter drei nmol/l, 95 Prozent der Männer über sieben nmol/l.
Aber gerade bei Spitzensportlerinnen und -sportlern widersprechen die Testosteronwerte den Erwartungen. Hier gibt es eine erhebliche Überschneidung der Werte. In einer Studie mit 700 Athletinnen und Athleten hatten 13,7 Prozent der Frauen einen Testosteronwert oberhalb des typisch weiblichen Bereichs. 4,7 Prozent lagen sogar im typisch männlichen Bereich. Umgekehrt wiesen 16,5 Prozent der männlichen Hochleistungssportler einen Testosteronwert unterhalb des typisch männlichen Bereichs auf.
Testosteron allein macht nicht stark
Was nun? Testosteron wirkt leistungssteigernd – daher wird es beim Doping in Form synthetischer Steroide angewendet. Dennoch ist es nicht das Wundermolekül des Sports.
Dank Testosteron bauen wir zwar Muskeln auf. Aber nicht Stärke. Man denke an die Muskelberge der Bodybuilder, die nicht automatisch für imposante Kraft bekannt sind. Die Kraft kommt erst mit dem Training, und in welchem Verhältnis Testosteron und Stärke stehen, ist noch immer Gegenstand der Forschung. Zudem reagieren Menschen beziehungsweise ihr Gewebe sehr unterschiedlich auf Testosteron.
Testosteron ist sozial und sensibel
Testosteron ist also kein simpler Schalter, sondern ein Saft, der in einem Cocktail mit anderen Hormonen, Körpereigenschaften und sozialen Bedingungen seine Wirkung entfaltet. So treibt etwa Konkurrenz in Spiel und Sport den Testosteronlevel in die Höhe. Und zwar vor allem bei den Erstplatzierten. Siegen scheint eine magische Wirkung auf unseren Hormonhaushalt zu haben. Ebenso wie Lob. Ein positives Feedback der Trainerin, und schon steigt das Testosteron steil in die Höhe.
Mehr zum Fall Caster Semenya
Testosteron kann vieles. Aber nicht allein. Die Diskussion um zulässige Testosteronspiegel bei Sportlerinnen ist daher zu simpel, um den betroffenen Menschen und dem missverstandenen Hormon gerecht zu werden.