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Gene, Erziehung, Faulheit Was wirklich schuld ist, wenn wir Dinge aufschieben

Was viele als harmlose Aufschieberitis abtun, kann für manche zur Qual werden. Was genau führt zu Prokrastination? Ist Aufschieben nur schlecht? Die Wissenschaft ist sich nicht sicher – genauso wie die Autorin.

Ich weiss, es liest sich wie der plumpe Versuch eines kreativen Einstiegs. Wie ein schlechter Scherz. Aber es stimmt: Seit vier Wochen schiebe ich diesen Text vor mir her. Dass das ausgerechnet beim Thema «Prokrastination» passiert, ist mir auf sehr vielen Ebenen peinlich – und doch bitte ich Sie: Lesen Sie weiter. Denn der Blick auf diverse wissenschaftliche Untersuchungen zeigt, dass Sie mit hoher Sicherheit wissen, wovon ich spreche: Bis zu 80 Prozent der Menschen schieben ständig Dinge auf.

Aber hier kommt auch schon der erste Haken: Wenn wir unsere «Aufschieberitis» mit dem Wort «Prokrastination» betiteln, ist das – aus wissenschaftlicher Sicht – falsch. Nicht jeder Aufschub kann als Prokrastination bezeichnet werden.

Aufschub ist Teil von Strukturierung und Priorisierung. Prokrastination dagegen ist das wiederholte unnötige Verschieben wichtiger Aufgaben, obwohl ich Zeit dafür gehabt hätte – und weiss, dass es dadurch potenziell sehr schwierig für mich werden könnte. In Bezug auf meine Leistung (einen mittelmässigen Text abliefern) und meine Gefühle (wütend werden, dass ich für dieses Ergebnis auch noch so lange gebraucht habe). Aber vielleicht kriegen wir die Kurve ja noch.

Ab in die Prokrastinationsambulanz

Ich starte also den Versuch der Quasi-Selbstmedikation und nehme Kontakt zur Prokrastinationsambulanz der Universität Münster auf. Vor 20 Jahren war diese psychologische Ambulanz die erste Anlaufstelle im deutschsprachigen Raum, bei der Studierende spezialisierte Gesprächstherapien und Coachings zum Thema wahrnehmen konnten.

Nun bin ich zwar keine Studentin mehr, aber habe offensichtlich ein Problem mit dem Anfangen einer mir relevant erscheinenden Aufgabe. Etwas, das mich immerhin an meine Studi-Zeit erinnert.

Die Prokrastinationsambulanz

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Die Prokrastinationsambulanz ist eine Spezialambulanz der Psychotherapie-Ambulanz der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Sie bietet Diagnostik, Beratung und Therapie bei Prokrastination (d.h. Aufschiebeverhalten) für Studierende und Angehörige der Uni an und erforscht dieses Problem mit dem Ziel, die Behandlung zu optimieren.

Die erste Bremse: Das Team aus Münster hat derzeit zu viele Anfragen. Kein Interview möglich. Priorität haben Angehörige der Universität oder Menschen aus dem Raum Nordrhein-Westfalen. Nachvollziehbar. Dass es tatsächlich so viele Menschen mit schwerwiegenden Problemen aufgrund ihrer Aufschieberitis geben soll, wundert mich allerdings.

Immer mehr Aufschieber?

Doch auch die anschliessenden Abstecher in Online-Buchhandlungen und Foren deuten darauf hin. Zahlreiche Ratgeber wie «Das Buch vom effektiven Arbeiten durch gezieltes Nichtstun» oder «4000 Wochen». Das Leben ist zu kurz für Zeitmanagement, und endlose To-do-Listen auf Coaching-Seiten wollen dem Aufschieben ein Ende setzen.

Leiden wirklich immer mehr Menschen darunter? Ganz so einfach lässt sich das nicht beantworten: «Die epidemiologischen Untersuchungen zur Prokrastination variieren sehr stark im Vorgehen und in den Fragestellungen», erklärt die Psychologin Margarita Engberding. «Es ist also ein Unterschied, ob ich frage: ‹Haben Sie ein Problem mit Aufschieben?› oder ob ich wissen will, ob jemand so darunter leidet, dass der Alltag eingeschränkt wird.»

Schlafstörungen und Schamgefühle

Margarita Engberding muss es wissen. Sie hat die Prokrastinationsambulanz in Münster vor 20 Jahren mitaufgebaut, zahlreiche Studien durchgeführt – und noch Zeit für ein Gespräch mit mir gefunden. Ihren Untersuchungen zufolge sind etwa 15 Prozent klinisch von Prokrastination betroffen.

Das heisst: «Bei diesen Betroffenen verursacht das Aufschieben neben Stress und Hektik bei der Aufgabenerledigung Schlafstörungen, Anspannung, depressive Gefühle, Probleme in Beziehungen und Beruf und erhebliche Schamgefühle.»

Wir wählen immer den bequemsten Weg. Durch das Aufschieben wird der anstrengenden Aufgabe mitsamt den verbundenen unangenehmen Gefühlen ausgewichen.
Autor: Margarita Engberding Psychologische Psychotherapeutin

Warum dieser selbstauferlegte Leidensdruck? Wieso fällt es manchen so schwer, Dinge anzugehen? Ganz einfach: Weil es menschlich ist. «Wir wählen gern den kurzfristig bequemsten Weg, trotz späterer Nachteile. Durch das Aufschieben wird der anstrengenden Aufgabe mitsamt den verbundenen unangenehmen Gefühlen ausgewichen. Stattdessen werden weniger sperrige oder sogar positive Ersatztätigkeiten ausgeführt», so die Expertin.

Zwar entsteht so eine Kette von unangenehmen Dingen wie Zeitdruck, Frust und Selbstvorwürfen, die die Aversion gegen die Aufgabe noch erhöhen – aber diese langfristigen Folgen steuern unser Verhalten eben nicht, wenn wir akut unmotiviert vor der Steuererklärung sitzen.

Prokrastinierenden fehlt es im psychologischen Sinne also an Selbstkontrolle und Selbststeuerung. Dinge, die wir in der Kindheit im besten Fall von unseren Eltern oder dem sozialen Umfeld vermittelt bekommen. Wir lernen, unmittelbare Bedürfnisse aufzuschieben, um erfolgreich zu sein oder an etwas dranzubleiben. Vielleicht haben Sie schon mal etwas vom «Marshmallow-Experiment» gehört.

Marshmallow-Experiment

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«Warte, bis ich wieder da bin und du bekommst noch einen zweiten Marshmallow.» Mit diesen oder ähnlichen Worten verliess Psychologe Walter Michael in den 1960er-Jahren das Zimmer, in dem seine kleinen Versuchsteilnehmenden sassen. Michael wollte damit Kenntnisse über die Selbstregulierung und Selbststeuerung von Kindern gewinnen.

Und das tat er: Die Unterschiede zwischen den Kindern, die dem Marshmallow widerstehen konnten – Augen zuhalten, weglaufen vom Tisch, sich selbst gut zureden – und jenen, die das nicht konnten, waren eindeutig. Erstere zeichneten sich in späteren Versuchen durch hohe Sozialkompetenz, ein gesteigertes Selbstbewusstsein und eine höhere Konzentrationsfähigkeit aus und waren darüber hinaus widerstandsfähiger gegenüber Stress.

So schnitten Schweizer Vorschulkinder 2013 im Marshmallow-Test von «Einstein» ab.

Unsere Selbstregulierung ist übrigens Gehirnsache. Sie wird vom präfrontalen Cortex gesteuert. Vor dem zweiten Lebensjahr ist das Stirnhirn von Kindern noch nicht bereit, Impulskontrolle zu lernen. Es entwickelt sich nach und nach. In unseren Studentenjahren sollte es dann ausgebildet sein – und doch schiesst gerade hier in vielen Untersuchungen die Zahl der Prokrastination-Betroffenen durch die Decke.

Übrigens: Nur auf die Erziehung oder mangelndes Erlernen von Selbstkontrolle lässt sich das Ganze nicht schieben. Es sind individuelle Faktoren, die bei Betroffenen zur Prokrastination führen. Das Spektrum reicht von Persönlichkeitsmerkmalen bis hin zu äusseren Faktoren. Wenn jemand etwa sehr impulsiv ist und die Aufgabe, die er bekommt, nicht strukturiert ist oder ihm nicht plausibel erscheint, ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass er sie aufschiebt. So die verbreitetste Erklärung der klinischen Psychologie.

Das Problem vieler Studierenden lässt sich relativ simpel erklären: «Ein Studium erfordert im Vergleich zum Lernen in der Schule ein hohes Mass an Selbstständigkeit in der Planung, die Aneignung von Fachkenntnissen und die Willenskraft, diese Planungen in das Lernen und Schreiben von Arbeiten umzusetzen.» Sprich: Mit der Freiheit und den komplexeren Aufgaben kommen also auch potenzielle Selbststeuerungsprobleme mehr an die Oberfläche.

Struktur, Genetik und Gehirn

Was hilft, ist also Struktur. Das bestätigen auch Untersuchungen, die Anfang der 2000er-Jahre in Schweden gemacht wurden: In geisteswissenschaftlichen Fächern, wo weniger Termindruck bei Abgaben herrscht und die Studierenden weniger strukturierte Vorgaben hatten als in naturwissenschaftlichen Fächern, wurde das Prokrastinieren eher zum Problem.

Ein Team von Biopsychologinnen und -psychologen der Ruhr-Universität Bochum meint dagegen, die Ursache für das Verhalten in unserem Gehirn gefunden zu haben. Die Forschenden untersuchten 2019 die Hirnregionen von Frauen und Männern im Kernspintomografen.

Schieben Frauen mehr auf als Männer?

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Forschende der Ruhr-Universität Bochum und der Technischen Universität Dresden haben 2019 eine andere These aufgestellt. Ihrer Auffassung zufolge soll es einen Zusammenhang zwischen der genetischen Veranlagung für einen höheren Dopaminspiegel im Gehirn und dem Hang zum Aufschieben. «Wir konnten beobachten, dass bei Frauen, die genetisch bedingt einen höheren Dopaminspiegel im Gehirn haben, tendenziell eine stärkere Neigung zur Prokrastination vorliegt», so Biopsychologin Caroline Schlüter gegenüber dem «mdr».

Aber warum Frauen? Und warum Dopamin, das vermeintliche Glückshormon?

Der Botenstoff Dopamin regelt nicht nur unser Glücksgefühl. Bei der Prokrastination sei es so, dass man ein Ziel zwar verfolgen sollte, dann aber andere Dinge dazwischenkämen. Weniger Dopamin bewirkt quasi weniger Ablenkung im Gehirn. Es beeinflusst, wie stringent man Handlungsziele verfolgen kann.

Für die Studie haben die Forschenden fast 300 Probandinnen und Probanden untersucht. Sie fokussierten sich vor allem auf ein bestimmtes Gen, das auch den Dopamin-Haushalt regelt. Dass es einen Effekt geben könnte, haben die Forschenden also vorausgesehen. Doch es gab auch eine Überraschung: einen Gender-Effekt. «Wir haben nicht erwartet, dass es ein für Frauen oder Männer spezifischer Effekt ist», so die Wissenschaftlerin. Bei der Suche nach dem Grund habe sich gezeigt, dass das weibliche Sexualhormon Östrogen eine Rolle spiele.

Das Ergebnis: Die Studienteilnehmenden mit Hang zur «Aufschieberitis» zeigten eine vergrösserte Amygdala. Dieser Teil ist für die Verarbeitung von Gefühlen zuständig – und steuert, wie ängstlich wir sind. Die Amygdala bestimmt auch, ob wir bestimmte Gegenstände eher mit Belohnung oder Bestrafung verbinden.

Ausserdem stellten die Forschenden fest, dass die Verbindung zu einer weiteren Hirnregion, dem sogenannten dorsalen anterioren cingulären Kortex, bei den Aufschieberinnen und Aufschiebern weniger stark ausgeprägt war als gewöhnlich. Schon in früheren Studien wurden diese beiden Hirnregionen in Zusammenhang mit der Steuerung von Handlungen gebracht.

Prokrastination – eine Philosophen-Krankheit?

Werfen wir noch einen Blick auf die Geisteswissenschaften, in denen ja grössere Prokrastinationsprobleme bestehen sollen – zumindest, wenn es nach den schwedischen Forschenden geht.

Laut Philosoph John Perry ist Prokrastinieren tatsächlich die Philosophen-Krankheit par excellence. Die Geisteswissenschaft glaubt an die Vernunft und daran, dass wir als vernünftige Wesen nach guten Gründen handeln sollten. Wer es nicht schafft, sich aufzuraffen, ist willensschwach – für Philosophinnen eine schlimme Diagnose. Aristoteles war einer der Ersten, der in der antiken griechischen Philosophie den philosophischen Terminus Akrasia eingeführt hat. Was so viel wie Willensschwäche bedeutet – und schon damals kein erstrebenswerter Zustand war.

Prokrastination als kreativer Freiraum

Kollegin Barbara Bleisch und Kollege Yves Bossart erklären in einer Folge «Bleisch&Bossart», man könne Prokrastination auch als eine temporale Verweigerungshaltung verstehen: «Das Problem ist ja: Je effizienter man wird, umso mehr wird man zum Reservoir für die Erwartungen anderer. Ich denke oft: Ich müsste einfach mal weniger effizient und pflichtbewusst sein, dann würde man mir auch weniger aufs Auge drücken.» Prokrastination als rebellischer Akt? Damit könnte ein Teil von mir auch leben.

Und: Manchmal entstehen im Nichtstun, beim Joggen oder Spazieren die besten Gedanken. Prokrastination als kreativer Freiraum! Prokrastinierer sollen, so die Stimmen der Philosophie, oft sehr erfolgreich sein, weil sie sich dem zuwenden, was wirklich zählt und kreative Pausen einlegen. Ein versöhnlicher Blick auf die Thematik. Und jetzt: Wieder ran an die Aufgaben. Wenn ich das schaffe, können Sie es auch.

Wer Unterstützung braucht, kann sich an diese Tipps halten

  1. Beginnen Sie pünktlich. Versuchen Sie sich vorab auf die täglich als erste vorgenommene Arbeitseinheit zu konzentrieren: Setzen Sie sich dafür einen klaren Startpunkt, planen Sie sich für die Durchführung Pufferzeit ein. Etablieren Sie vielleicht ein Einstimmungsritual (erst Fenster öffnen, dann Kaffee holen und loslegen), ein Ziel, auf das Sie hinarbeiten (nachher ab in den See springen). Und legen los.
  2. Seien Sie ihr Vertragspartner. Schliessen Sie einen Vertrag mit sich selbst ab. Ja, es mag komisch klingen – aber versuchen Sie, sich selbst als Vertragspartnerin ernst zu nehmen und sich an ihre vorab formulierten Ziele zu halten.
  3. Seien Sie realistisch. Jeden Tag 100 Seiten in Ihrem Buch schreiben? Wohl kaum. Machen Sie sich kleine Etappenziele und belohnen Sie sich, wenn Sie eines erreicht haben.

Einstein², SRF1, 08.06.2023, 17:00 Uhr

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