«Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals sexuell zu jemanden hingezogen gefühlt zu haben.» Annina Anderhalden hat mit ihren 24 Jahren einige wenige sexuelle Erfahrungen hinter sich. Sie war mit einer lesbischen Frau zusammen. Später zwei Jahre mit einem Mann.
Weil sie bei beiden eine ähnliche Anziehung spürte, glaubte sie, sie sei bisexuell. Bis sie merkte, dass diese Anziehung weder beim Mann noch bei der Frau sexueller Natur war.
Verzicht auf Sex als Neujahrsvorsatz
Pia Troxler war 40, als sie als Neujahrsvorsatz beschloss, definitiv auf Sex zu verzichten. Mit sexuellen Beziehungen hatte sie es über Jahre hinweg immer wieder versucht. Weil alle darüber redeten und ein Sexualleben hatten – nicht aus wirklichem Interesse.
An Gelegenheiten fehlte es nicht. Auch nicht an intensiven Erlebnissen: «Einen Orgasmus zu haben, finde ich sehr schön. Auch die Intensität und die Heftigkeit», sagt Pia Troxler.
«Diese Heftigkeit kann ich aber auch durch anderes erzeugen. Ich muss das nicht körperlich erleben. Etwa mit Büchern, mit Schreiben, mit Gedanken.»
Tiefe emotionale Beziehungen hat die Autorin keine. Und obwohl ihr das manchmal ein wenig fehlt, ist sie grundsätzlich mehr als zufrieden mit ihrem Entschluss, sexlos zu leben.
Mehr Frauen als Männer
Damit ist sie nicht allein. Wie Annina Anderhalden hat auch Pia Troxler 2021 den Chat von asexuell.ch und damit eine Art neue Heimat entdeckt. Hier finden asexuelle und aromantische Menschen Gleichgesinnte.
«Etwas über 100 Menschen tauschen sich zurzeit in den Chats aus», sagt die Initiantin und designierte Präsidentin des ersten Vereins von Asexuellen in der Schweiz, Jana N*.
Zahlen und Fakten über die Bewegung der Asexuellen sind rar. Die aktuellsten Studien stammen aus dem Jahr 2008. Danach bezeichnet sich etwa ein Prozent der Bevölkerung als asexuell.
Es sind deutlich mehr Frauen als Männer. In ihrer Schweizer Community liege der Anteil der Männer bei ungefähr 20 Prozent, sagt Jana N*. Auch etliche geschlechtsneutrale Menschen gehören dazu.
Unverständnis und Vorurteile
«Der Richtige wird schon noch kommen.» Sätze wie diese müsse sie sich oft anhören, sagt Annina Anderhalden. Doch die gut gemeinten Beschwichtigungen beziehen sich mehr auf ihr Single-Leben als auf ihr Desinteresse an Sex. Da man ohnehin nicht über Sex rede, sei das auch eher akzeptiert, sagt die 24-Jährige.
«Die anderen haben immer das Gefühl, mir würde etwas fehlen», sagt auch Pia Troxler. Es gehöre sich in vielen Kreisen einfach nicht, dass eine Frau allein lebe.
Eine Schublade als Erleichterung
Pia Troxler und Annina Anderhalden haben nicht nur die Asexualität und das Schreiben als grosse Leidenschaft gemein. Beide waren sehr erleichtert, als sie auf den Begriff «Asexualität» stiessen.
Obwohl beide eigentlich keine Freundinnen von Schubladisierungen sind, fühlten sie sich von Druck befreit, als sie merkten, dass sie nicht allein sind mit ihrer sexuellen Haltung. Jetzt haben sie eine «offizielle» Erklärung für ihr Anderssein.
«Durch die Bezeichnung Asexualität habe ich gemerkt, dass ich gar nicht muss», sagt Annina Anderhalden. «Ich muss niemandem gefallen ausser mir selbst.» Eigentlich müsse sie nur glücklich sein im Leben. «Und durch die Bezeichnung Asexualität kann ich das auch werden.»
Angeboren oder nicht?
Die Wissenschaft weiss noch nicht viel über die Asexualität. Auf jeden Fall aber wird sie ernst genommen und nicht als Störung oder Abnormität abgetan. «Eine angeborene Asexualität gibt es nicht, jeder hat eine festgelegte genetische Identität. Was sich im Laufe des Lebens aber ändern kann, ist die hormonelle Ausrichtung oder die sexuelle Orientierung», sagt Elke Krause, Leiterin des gynäkologischen Ambulatoriums am Inselspital.
«Es ist natürlich gut möglich, dass die Orientierung sich in Richtung der Asexualität entwickelt, und sich eine Person nicht dafür interessiert», so die Gynäkologin. «Wenn jemand kein Interesse an Sex hat, ist dies natürlich absolut in Ordnung. Man muss niemanden überzeugen.»
Gegen diese Aussage wiederum wehrt sich Jana N*. Ihrer Meinung nach ist die Asexualität etwas Angeborenes.
Offen in die Zukunft
Pia Troxler könnte sich eine exklusive emotionale Beziehung in Zukunft allenfalls vorstellen. Wenn, dann zu einer Frau. Einzige Bedingung: Es dürfte sie nicht vom Schreiben abhalten. Schreiben ist und bleibt das Wichtigste für sie.
Annina Anderhalden schliesst nicht aus, dass sich ihre heutige Orientierung als asexuelle und aromantische Person in Zukunft verändern kann: «Sexualität ist fluide, das kann sich immer wieder ändern.» Eine romantische Beziehung schliesst sie deshalb nicht aus. Im Moment aber fühlt sie sich sehr wohl mit der Bezeichnung asexuell.
*Name der Redaktion bekannt.