«Ich wett mich nöd dräckig mache. Sus sind s Mami und de Papi verruckt.» Eines der Kinder ist besorgt, dass die Finken oder der Pulli dreckig werden beim Spielen. Deshalb schaut es den anderen beim Spielen zu und traut sich nicht, sich zwischen die Blumenerde und die Kresse-Samen zu setzen. Ich überlege kurz, ob ich diesen Satz von meinen Kindern schon mal gehört habe (und ich wünschte durchaus manchmal hinter Bergen von Wäsche, es wäre für eine Milisekunde der Fall).
Das ist der einzige Moment an diesem Vormittag im Kindergarten, an dem ich innehalte. Danach wird meine Hand von vielen kleinen Händen gepackt, ich werde in eine «Hütte» aus Kissen eingeladen, darf mithelfen beim Blumen ansäen, soll meine Finger in ein Bad voller glitschiger «Chügeli» tauchen, werde Löcher in den Bauch gefragt und vergesse kurz nicht nur die Kameras, sondern auch die Welt.
Wir spielen. Und: wir lernen. Denn «Spielen ist die höchste Form der Forschung», sagte bereits Albert Einstein. An ihn werde ich später im Unterricht nochmals denken.
Kinder spielen nicht mehr altersgerecht
Wann haben Kinder so richtig Zeit, zu spielen? Ohne Zeitlimit, ohne «Pscht», «nei das gaht so nöd» und ohne «bitte pass uf, de Heissliim uf üsem Chuchitisch, ui nei.» Na klar, Kinder spielen immer und überall, dachte auch ich. Die Forschung aber entgegnet: Kinder spielen immer weniger. Sprich, sie haben weniger Zeit dazu oder spielen nicht mehr altersgerecht.
Das bestätigt auch Lehrperson Sandra Hürlimann: «Viele Kinder spielen noch wie 2- und 3-Jährige, wenn sie in den Kindergarten kommen. Sie räumen aus und sortieren.» Das sei ja nichts Schlechtes, aber sie erwarte von den Kindern in diesem Alter, dass sie schon weiter seien in ihrer Spielentwicklung.
Durchgetakteter Alltag
Aber was sind die Gründe? Das hat einerseits damit zu tun, dass der Alltag vieler Kinder durchgetaktet ist, wie der Fahrplan der SBB, und sie gar nicht erst zum Spielen kommen. Oder andererseits, dass es Eltern gibt, die viel arbeiten (müssen), und iPad und Co. als Babysitter dienen – also wenig in der analogen Welt gespielt wird.
Das hat Folgen: Immer mehr Lehrpersonen im Kindergarten sehen heute, dass schon kleine Kinder wenig Berührung mit dem sogenannten Funktionsspiel haben. Also zum Beispiel sensorische Erfahrungen mit Hand und Mund machen dürfen, weil die (über)behütenden Eltern nicht wollen, dass sie schmutzig, krank oder beides werden.
Wem diese Erfahrung des Ausprobierens fehlt, wird dies ein Leben lang spüren. Auch die Lehrpersonen spüren diese zunehmende Ängstlichkeit in der Gesellschaft: «Wenn wir mit den Kindern Früchte schneiden, dann sagen einige, dass sie noch nie ein Rüstmesser in der Hand hatten. Wir aber machen das im Kindergarten. Ich denke, dass die Behütung im Vergleich zu früher zugenommen hat», so Lea Burri.
Als mir das die Kindergärtnerin nochmals vor Augen führt, denke ich an all die joghurtverschmierten Gesichter meiner Kinder, an das gemeinsame Rüsten in der Küche, das «Götschne», welches immer in einer Schaumschlacht endet. Aber Spass macht.
Disclaimer: Es kann durchaus sein, dass Sie ihre Küche nach diesem Text öfter zum Forschungslabor umfunktionieren. Hier folgt allerdings auch kein Freipass für Anarchie in Schuhgrösse 25. Aber eine Anregung, unser bisheriges Bild von Lernen und Spielen zu verlernen.
Spielen ist das bessere Lernen
Genau das war «mein Lehrblätz», als ich für die SRF Einstein Reportage – und mit 40 Jahren – wieder im Kindergarten war. «Spielen Plus» heisst ein Programm, mit welchem die Schulbehörde der Stadt Zug das Spielen fördert, und somit auch das Lernen. Denn Spielen ist das bessere Lernen, werde ich heute eindrücklich erleben.
8:00 Uhr, die Kinder sitzen im Kreis und singen «Mir sind Forscher, ja mir sind Forscherinne!».
Die Kinder werden – eingeteilt in verschiedene Gruppen – spielerisch Projekte realisieren: Eine Forscherhütte soll geplant, ein Garten angepflanzt, ein Vogelhäuschen gebaut werden – notabene alles im Klassenzimmer. Die Kindergärtnerinnen stellen Material zur Verfügung (Blumenerde, Hammer und Holz, Wasser und Samen, Farben und Scheren), geben kurze Inputs und lassen dann den Kindern: Raum und Zeit. Diese zwei Ingredienzen sollen für mich gleichbedeutend zum Heureka-Moment werden, wie vielleicht Raum und Zeit damals für Einstein. (Ok, das ist relativ.)
Kinder kommen aus unterschiedlichen Erfahrungswelten
Kurz ertappe ich mich beim Gedanken, wer das wohl alles aufräumen würde. Und genau hier beginnt, was mit «Spielen Plus» beendet werden soll: ein von Erwachsenen organisiertes und durchdachtes Setting fürs Spielen: dass ein Kind, mit diesem jenes gemacht werden soll, schön an seinem Platz, hoch konzentriert bitte, ohne dass man danach merkt, dass hier gespielt wurde.
In einer Klasse mit verschiedenen Kindern aus verschiedenen Realitäten, mit diversen «Rucksäcken» ein Ding der Unmöglichkeit, versichert mir auch die Kindergärtnerin. Mit der neuen Spielform findet jedes Kind sein Spiel auf Augenhöhe. Nicht nur das: ich bemerke, dass die Kinder zwar alle Freiheiten innerhalb des Spiels haben, aber auch eine feste Struktur (Am Schluss wird zusammen aufgeräumt – und das funktioniert!).
Sie kennen den Rahmen des Spiels, aber dürfen den Inhalt komplett selbst gestalten. Nein, sogar selbstständig organisieren: Ein Junge übernimmt die Bauleitung und zeichnet Pläne für ein Forschungshaus.
Ein Mädchen erklärt einem anderen Jungen, wie man aus Blättern ein Buch faltet. Sogar ein iPhone der Kindergärtnerin kommt zum Einsatz – «Wir können die Realität nicht ausblenden, nur zu unserem Vorteil nutzen» – es zeigt Skizzen mit Falt-Anleitungen. Die Kinder gucken es kurz an, nutzen es als Vorlage und verlieren sich dann wieder im Spiel. Die Zeiten, dass alle Kinder zeitgleich ein selbes Ding nach Handbuch basteln und still sitzen müssen, scheinen in diesem Klassenzimmer so weit zurück wie die Dinos, die an der Wand hängen.
«Sie sollen selbst auf eine Lösung kommen»
In den einzelnen Gruppen findet jede und jeder «kleine Forschende» seinen Platz: während die einen allein an ihrem Werk arbeiten, spannen andere als Teams zusammen, verhandeln, helfen und inspirieren sich. Die zwei Jungs zum Beispiel, die dem Vogelhäuschen den letzten Schliff geben. Sie wollen mittels Heissleim die Kartons festmachen, und wünschen sich eine Klapptüre für die Vögel. Ob das funktioniert?
Weisch, ich ha mi scho mol verbrennt. Ich weiss, wies gaht.
Kindergärtnerin Sandra Hürlimann assistiert den beiden, ohne die Idee auszureden oder ein «ja aber» zu räuspern: «Es ist verführerisch einzugreifen, aber sie sollen selbst auf eine Lösung kommen», kommentiert sie. So probieren die Jungs aus und verstehen, weshalb es dann nicht funktioniert – weil sie es erlebt haben. Und auch meine gerümpfte Nase, als ich das Hantieren mit dem Heissleim betrachte, wird schnell blass: «Weisch ich ha mi scho mol verbrennt. Ich weiss, wies gaht», quittieren die Jungs meinen Blick.
Die «Komplimenten-Dusche» als Abschluss
Stunden vergehen, alle Kinder spielen konzentriert und lustvoll, das Forschen findet kein Ende. Bis fröhliche Musik ertönt und die Kinder wissen: Wir sitzen in den Kreis und verabschieden uns mit der «Komplimente-Dusche»: Jemand darf in den Kreis liegen und wird von den anderen «Mitarbeitenden» überschüttet mit Dingen, die man heute beim Zusammenspiel gut gemacht hat.
Nach dem Unterricht strahlen die Kids – und ich bin ich nudelfertig. Das Spiel war erfüllend und aufregend zugleich. So viel gab es zu Entdecken. Und Lernen. Für mich persönlich, dass ich meinen Kindern weiterhin viel Raum und Zeit fürs Spiel lasse, dass Schlammfüsse oder eine zum Forschungszentrum umfunktionierte Küche ein Gütesigel sind. Nicht für gestresste Erwachsene, aber für glückliche, spielende Kinder. Und dass wir dringend Heissleim zu Hause brauchen – um zu lernen.