Oliver Wiser: Hörschatz – Nachklang für das Leben
Im Dezember 2020 verlor Oliver Wiser (46) seine Frau Wanda im Alter von 42 Jahren an Magenkrebs. Zurück blieb er mit den Kindern Zoë (14) und Jendrik (12).
«Wanda hat uns sehr beim Abschied geholfen, das war wichtig für sie. Sie war traurig und hatte Angst vor dem Tod, aber die Zeit, die ihr noch blieb, wollte sie nutzen. Für sich, aber vor allem für die Familie.
Wir sind gereist, haben Ausflüge gemacht und trotz aller Sorgen versucht, einen einigermassen normalen Alltag zu leben. Den Kindern gegenüber haben wir mit offenen Karten gespielt: ab dem Zeitpunkt, als klar wurde, Wandas Magenkrebs ist nicht mehr heilbar, wussten Zoë und Jendrik, dass ihre Mutter stirbt.
Obwohl wir die Hoffnung auf eine Genesung nicht aufgegeben wollten, haben Wanda und ich nach der Diagnose vorsichtig angefangen, die Weichen für eine Zukunft ohne sie zu stellen. Das klingt heute so überlegt, war jedoch verbunden mit vielen Tränen, mit Ohnmacht und grosser Angst vor dem, was kommen könnte.
Wanda wünschte sich, dass wir uns an ihre Stimme erinnern, wenn sie nicht mehr da ist. Einige Monate vor ihrem Tod hat sie mit Hilfe des Vereins Hörschatz ihre Audiobiografie aufgenommen. Bei uns daheim im Wohnzimmer. Drei Tage lang, begleitet von den Initiantinnen des Vereins. Hinterlassen hat uns Wanda zehn Stunden unterteilt in 86 Kapiteln.
Wanda hat uns Ratschläge und ihre Sicht auf das Leben hinterlassen, aber auch Erinnerungen an ihre Kindheit oder wie wir uns kennengelernt haben. Auch Rückblicke auf das, was wir als Familie alles gemeinsam erlebt haben, die schönen, aber auch schwierigen Momente.
Einige der Kapitel haben wir noch mit ihr gemeinsam gehört. Bei anderen wollte Wanda, dass dies erst nach ihrem Tod geschieht. Zudem hat sie für mich, Zoë, Jendrik, ihre Mutter und ihre Schwester jeweils ganz persönliche Kapitel eingesprochen. In der Einleitung ihrer Audiobiografie sagt Wanda dazu, dass wir ‹ja nicht alles auf einmal hören müssen›.
Was meine Frau mit ihrer Audiobiografie hinterlassen hat, soll uns ein Leben lang begleiten. Für unsere Familie ist sie eine wichtige und nachhaltige Kraftquelle. Ich stelle mir den Hörschatz vor, wie eine geheimnisvolle Kommode. Jedes Mal, wenn wir eine Schublade öffnen, finden wir etwas Neues. Je nach Bedarf nehmen wir es oder lassen es liegen, bis wir es brauchen.
Zoë beispielsweise, möchte die Stimme ihrer Mutter nur hören, wenn sie allein ist. Sie schliesst dann die Augen und stellt sich vor, dass Wanda neben ihr sitzt. Jendrik möchte lieber, dass ich dabei bin.
Ehrlich gesagt, nutzen die beiden den Hörschatz im Moment nur wenig. Es fehlt die Zeit. Die Tage der Kinder sind mit Schule, Hobbys und anderen Beschäftigungen voll. Und ich finde das prima, unser Leben geht ja weiter.
Es kam mal der Einwand, ob der Hörschatz nicht wie eine Retraumatisierung wirkt, also immer wieder alte Wunden aufreisst. Auf gewisse Weise stimmt das natürlich. Höre ich ihre Stimme und betrachte ich ihre Fotos, dann fliessen schon mal die Tränen. Aber ich muss auch viel lachen. Danach fühle ich mich befreit und habe wieder neue Energie, eine unbändige Freude am Leben.»
Christine Grossenbacher: Den Abschied planen
Christine Grossenbacher (67) verlor ihren Mann Ueli im Alter von 61 Jahren an Speiseröhrenkrebs. Nach sechs Jahren hat sie nun wieder einen neuen Partner an ihrer Seite.
«Ich glaube, Sterbende machen sich fast mehr Sorgen um diejenigen, die zurückbleiben, als um sich selbst. So war es zumindest bei Ueli und mir.
Als Uelis Krankheit sich verschlimmerte, begann er, für mich nach vorne zu schauen. Er wusste, dass ich allein zurückbleibe, unsere Ehe blieb kinderlos. Zunächst waren es kleinere Dinge, die er ordnete und aufräumte. Nach und nach standen grössere Entscheidungen an, wie der Verkauf unseres Cabriolets, Veränderungen im Eigenheim oder meinen Computer so einzurichten, dass ich allein zurechtkomme.
Diese Fürsorge war für mich manchmal auch zu viel. Sie stimmte mich traurig, manchmal auch wütend. Ich wollte mir kein Leben ohne ihn vorstellen.
Jetzt ist Uelis Tod fast neun Jahre her. Es gab schwere Phasen, in denen ich mit dem Schicksal schimpfte. Oder in Gedanken auch mal mit ihm, warum er mich allein gelassen hat. Mittlerweile komme ich mit dem Schmerz zurecht. Zudem bin ich ein religiöser Mensch und finde Halt in Gott. Durch unseren Glauben wussten mein Mann und ich, eines Tages sehen wir uns wieder.
Es war Uelis Wunsch und Entscheid, seine letzten Lebenstage in einem Hospiz zu verbringen. Er wollte nicht in unserem Haus sterben, in dem ich zurückbleibe. Er meinte, mein Leben müsse weitergehen, ohne negative Erinnerungen. Und es stimmt. Hätte ich mit anschauen müssen, wie sie mein Liebstes für immer abholen – ich würde heute nicht mehr in unserem Haus wohnen.
Nachdem ich fast sechs Jahre allein war, durfte ich Martin kennenlernen. Wie ich, ist auch er verwitwet. Dass wir uns kennen und lieben dürfen, ist ein grosses Geschenk und dafür sind wir sehr dankbar. Nach wie vor haben unsere Verstorbenen einen festen Platz in unserem Leben.»
Markus Bürgi: Dignity Therapy – die Würde der Sterbenden herstellen
Markus Bürgi (50) ist seit drei Jahren an der Seite seiner Freundin Tanja Brito Corona (48). Vor 16 Monaten bekam Tanja die Diagnose, dass sie an einem unheilbaren Hirntumor leidet.
«Es klingt kitschig: Tanja ist die Frau, die ich ein Leben lang gesucht habe. Wir sind beide Zivilstandesbeamte, haben immer wieder glückliche Paare vermählt, dann wurden wir selber eins. Verheiratet sind wir nicht.
Vor 16 Monaten bekam Tanja die Diagnose ‹Glioblastom 4›. Es handelt sich um einen sehr aggressiven, nicht heilbaren Hirntumor. Die zur Verfügung stehenden Behandlungen sind nun ausgeschöpft. Seit einigen Wochen hat sie ein Zimmer in einem Hospiz. Die Uhr tickt.
Immer mehr fange ich an, Nachlässe zu schaffen: Fotos, Gespräche, Gesten, Berührungen oder Anekdoten. Alles, woran wir uns später erinnern können, wenn sie nicht mehr da ist. Es ist ein Abschied auf Raten. Jeder Tag, der uns noch bleibt, ist für Tanja und mich ein Geschenk.
Ich kümmere mich um sie. Aber ohne die Unterstützung ihrer Familie, unserer Freunde und des Arbeitgebers, könnte ich das nicht stemmen. Tanja ist jetzt 48 Jahre alt und hat ihren Tod akzeptiert. Bis dahin bin ich für sie der Fels in der Brandung. Aber durch ihre humorvolle und liebevolle Art, versucht sie mir und ihrer Familie zu helfen, uns auf den Abschied vorzubereiten.
Tanja hat zwei junge Töchter, die beim Vater leben. Vor allem für die Mädchen hat sie vor kurzem an einer sogenannten Dignity Therapy teilgenommen, auch ‹Würdetherapie› genannt. Es ist eine Therapie, von der sowohl die Patienten als auch Angehörigen profitieren.
Ich durfte bei der Dignity-Therapy-Sitzung dabei sein. Während des anderthalbstündigen Gesprächs hat der Therapeut Tanja motiviert, auf ihr Leben zurückzublicken. Nicht die Chronologie von Ereignissen war wichtig, sondern ihre positive Bedeutung für Tanja. Eine Art biografisches ‹cherrypicking›.
Das war nicht ganz einfach. Tanja hat in ihrer Vergangenheit viel Schlechtes erlebt, das wollte sie erzählen. Der Therapeut hat sie dann vorsichtig dazu angehalten, ausschliesslich bei den guten Erfahrungen zu bleiben. Im Fokus stand dabei die Frage, welche Menschen für Tanja eine wichtige Rolle gespielt haben. Und vor allem: Was hat Tanja für andere Menschen bedeutet? Da gibt es sehr viele, nicht nur ihre Töchter und mich.
Letztendlich geht es darum, das Würdegefühl von Patienten zu steigern. Und ich glaube, das ist nötig. Wenn man todkrank ist, keine Hoffnung mehr hat und traurig ist, dann steht es alles andere als gut um das Selbstwertgefühl eines Menschen. Noch richtet sich das Angebot speziell an Palliativpatienten mit Demenz oder Krebs.
Das Gespräch wurde aufgezeichnet und wird nun niedergeschrieben. Falls Tanja möchte, kann das Manuskript gemeinsam mit ihrer Familie besprochen werden. Das wäre schön, denn Tanjas Schilderungen und Eindrücke sind mehr als nur ein Nachlass. Es handelt sich um die letztmalige Chance, Fragen zu beantworten, Unklarheiten auszuräumen und noch einmal zu verdeutlichen, wie sehr man sich liebt. Die Gespräche würden den Abschied leichter machen. Die Trauer auch.»