Es war ein kalter, feuchter Oktobertag vor 44 Jahren, als sich die 18-jährige Carmen Castro mit einem kleinen Stoffkoffer in den Zug setzte, der sie von Galizien in die Schweiz bringen sollte. In der Innentasche ihres selbst geschneiderten rosaroten Jäckchens trug sie die Empfehlung des Modegeschäfts ihres Dorfes, dass sie eine gute Arbeiterin war. In Thun, hatten ihr heimgekehrte Saisoniers berichtet, würde sie Arbeit finden, über 2000 km entfernt von den Eltern und den sieben Geschwistern.
Bahn-Odyssee durch die Schweiz
Es war Nacht, als die Bauerntochter, die ihr Dorf noch nie verlassen hatte, in Thun ankam und ihre Empfehlung einem französischen Kondukteur zeigte – nach 40 Stunden Zugfahrt. Der meinte: Mademoiselle, Sie müssen nach Trun, nicht nach Thun. Carmen Castro weiss bis heute nicht, ob er sich geirrt oder sie ihn falsch verstanden hatte. Sie übernachtete mit ihren 300 Pesetas in der Tasche im Wartesaal des Bahnhofs. Anderntags ging die Odyssee weiter, in Chur stieg sie um in die Rhätische Bahn und wiederum war es stockdunkel, als sie um 21 Uhr den Bahnhof von Trun erreichte.
«Auf dem Dach lag ein Meter Schnee!» erinnert sie sich. «Fue un choque» – das war ein Schock. Carmen hatte noch nie so viel Schnee gesehen. Sie setzte sich in den Wartesaal und wusste nicht, was sie tun sollte. «Ich rief nach meiner Mutter, obwohl ich erwachsen war. Ich fror, trug einen Minijupe, offene Schuhe, meine Beine waren nackt.» Nicht mal einen Mantel hatte sie, nur das rosarote Jäckchen mit dem Brief.
Der zweite Kondukteur
Eine Stunde später kam der Kondukteur der Rhätischen Bahn und wollte den Bahnhof schliessen. Er sah das Mädchen, es zeigte ihm den Brief. «Du musst nach Thun, nicht nach Trun!» erklärte er ihr. Carmen schüttelte nur noch den Kopf und weinte. Deutsch sprach sie kein Wort.
Da versuchte es der Mann mit Rätoromanisch und ein Lächeln flog über das verweinte Gesicht, obwohl Carmen verstand, dass sie wieder nicht am richtigen Ort war. Doch für die Rückfahrt hatte sie kein Geld. «Morgen um sechs öffnet die Tuchfabrik», tröstete sie der Kondukteur, sie könne ja dort als Näherin ihr Glück versuchen. Das war der Anfang eines neuen Lebens für die junge, mutige Galizierin.
Das Glück begann
Seit die Tuchfabrik Fabrica da ponn Trun 1912 eröffnet worden war, hatte die Rhätische Bahn die Strecke von Ilanz bis Disentis ausgebaut. Für die Fabrik musste Material transportiert werden und viele Arbeiterinnen gingen am Wochenende zurück zu den Eltern nach Chur.
In dieser Nach schlief Carmen in einem Bett, das sich bereits zwei Arbeiterinnen teilten. «200 Franken mussten die beiden monatlich für das Bett in einem kleinen Zimmer einer Vermieterin bezahlen. Ich konnte das kaum glauben!». Am anderen Tag besuchte Carmen Castro die Tuchfabrik. «Ich erschrak, als ich mich an die riesige Nähmaschine setzte. Der Chef wollte sehen, was ich kann und gab mir ein Papier. Ich legte es unter die Nadel und trat aufs Pedal. Der Motor war so stark, dass das Papier davonflog! Doch der Schweizer Chef lachte freundlich.» Sie erhielt die Stelle.
Eine Woche später ging Carmen mit einer Gruppe Arbeiterinnen Kegeln. Und wen sah sie dort: Den freundlichen Kondukteur der Rhätischen Bahn. Die beiden verliebten sich sofort. Noch heute sind sie ein Paar. Das rosarote Jäckchen hat Carmen Castro aufbewahrt. «Ich werde es für immer behalten. Es erinnert mich daran, wie traurig und verloren ich war und dass genau dann, mein Glück begann.»