Raymond Kurzweil will ewig leben. Dafür schluckt der Leiter der technischen Entwicklung bei Google und selbst ernannte Futurist täglich über 150 Pillen und lässt sich intravenöse Injektionen mit hocheffektiven Nährstoffen setzen.
Noch bis 2045 muss der 74-Jährige seine Selbstoptimierung durchziehen – dann wird seiner Einschätzung zufolge ewiges Leben möglich sein.
Die weltweit wachsende Biohackerinnen-Szene hat ihr Epizentrum im Silicon Valley und besteht wider Erwartens längst nicht nur aus Techies, die an Cyborg-Fantasien tüfteln. Das Klischee der Freaks mit implantiertem Chip im Arm ist falsch.
«Biohacker wollen mit diagnostischen Methoden herausfinden, wie ihr Körper funktioniert, um ihn dann zu optimieren. Sie sind die Daniel Düsentriebs des menschlichen Körpers», sagt Max Gotzler, Buchautor und einer der führenden Biohacker im deutschsprachigen Raum.
Die Natur rückt in den Fokus
Trotzdem gibt es sie natürlich nach wie vor: Extreme, die versuchen, ihren eigenen Körper mit hoch technisierten Ansätzen zu manipulieren, ihre Schwächen zu beheben und sich selbst zum Übermenschen zu machen. Die Anzahl derer, die einen humaneren Zugang suchen, steigt jedoch stetig. «In der Biohacking-Szene kommen wir gerade darauf, dass die Natur bereits alles bietet, was wir für ein gesundes, langes Leben brauchen.»
Infrarot-Lampen für gesunde Zellen
Er betrachte Biohacks grundsätzlich als Korrekturmassnahmen, um in einer unnatürlichen Umwelt wieder natürlicher zu leben, erklärt Biohacker Gotzler. Als Beispiel dafür nennt er Infrarot-Lampen für zu Hause. Deren Lichtfrequenzen kommen auch in der aufgehenden und untergehenden Sonne vor.
Gotzler zitiert Forschende aus Karlsruhe, die herausgefunden haben, dass eine Kombination spezieller Rotlicht und Infrarot-Frequenzen unsere Mitochondrien – die Kraftwerke unserer Zellen – dazu anregen, mehr des Moleküls Adenosin-Triphosphat (kurz: ATP) zu produzieren. ATP ist der Energieträger, den all unsere Organe und Muskeln benötigen, um richtig zu funktionieren. Die Rotlicht-Frequenzen sollen unsere Zellen dazu bringen, sich schneller zu erneuern.
Geschädigte Mitochondrien, kranker Körper
In jeder Zelle unseres Körpers existieren zwischen 500 und 2000 Mitochondrien. Jeden Tag produzieren und verbrauchen wir unvorstellbare Mengen davon. Sind Mitochondrien geschädigt, kann das mit verschiedenen Krankheiten, aber auch mit Alterssymptomen in Verbindung gebracht werden. Ausserdem werden sie mit der Zeit nachlässiger, was sich zusätzlich negativ auf unser Immunsystem auswirkt.
Trend «Mito-Hacking»
Biohacker helfen da bewusst nach – unter anderem mit einer zielgerichteten Ernährung: Keto-Diät, eine auf gesunden Fetten basierende Ernährung, bei der Kohlenhydrate fast komplett vermieden werden und Nahrungsergänzungsmittel wie Resveratrol (kommt in Rotwein vor) und Coenzym Q10 (steckt in Innereien, Sojabohnen, Nüssen und Samen). Denn das halte laut Gotzler die Phospholipidmembran - eine Fettschicht, von der Mitochondrien umgeben sind - elastisch.
Ein wichtiger Aspekt, damit der Austausch von lebenswichtigen Stoffen reibungslos funktioniere. Tatsächlich geben ihm unterschiedliche Studien recht. «Mittlerweile gibt es sogar einen Teilbereich des Biohackings, der sich Mito-Hacking nennt», so der Biohacker.
Transplantierte Kraft eines 25-Jährigen
Einen Schritt weiter geht das Start-up Cellvie des deutschen Internet-Pioniers und ehemaligen Computer-Hackers Michael Greve. Seit Jahren arbeitet man bei Cellvie an einem therapeutischen Mitochondrien-Transfer.
In der Theorie funktioniert das, vereinfacht gesagt, so: Man entnimmt einem 25-jährigen Sportler ein paar der Kraftwerke und vermehrt sie im Bioreaktor – einem Behälter, in dem bestimmte Mikroorganismen oder Zellen unter möglichst optimalen Bedingungen kultiviert werden. Dann injiziert man sie einem 70-Jährigen, der nach einer Operation auf der Intensivstation liegt.
Inzwischen stehen laut Cellvie auch Therapieformen zur Verfügung, bei denen Mitochondrien nicht injiziert, sondern ganz einfach inhaliert werden können. Die Aufnahme über die Lunge soll Immunreaktionen oder Abstossungen verhindern.
Das Altern in wenigen Monaten verlangsamen
Aber wahre Biohacker wollen ja nicht nur therapieren, sondern die Grundbausteine des Lebens optimieren. «Genome-Editing» – auch bekannt aus der Netflix-Serie «Biohackers» – ist im Forschungsdiskurs jedoch noch eine umstrittene Disziplin. Wenn auch der Chemie-Nobelpreis 2020 an die Entdeckerinnen der Genschere Crispr-Cas9 ging.
Indes forscht die Universität Zürich bereits am «Risikoprofil rund um den biologischen Alterungsprozess». Das Schlagwort hier: Epigenetik. Diese gilt als Bindeglied zwischen unserem Lebensstil, den Umwelteinflüssen und unseren Genen.
Das Ziel des Forschungsprojekts «Precision Age» ist ein individuell zugeschnittenes Präventionsprogramm, dass innert weniger Monate die Geschwindigkeit des biologischen Alterungsprozesses verlangsamen kann.
Lebensdauer hängt grossteils vom Lebensstil ab
«Falls das gelingt, machen wir Prävention zur Behandlung», sagt Heike Bischoff-Ferrari, Lehrstuhlinhaberin an der UZH für Altersmedizin und Altersforschung und Forschungsleiterin «Precision-Age». Das habe ein enormes Potenzial für die Gesundheit einer immer älter werdenden Gesellschaft, ist sich Bischoff-Ferrari sicher.
Wie lange wir leben, hängt nämlich zu rund 70 Prozent von der Epigenetik, also von Faktoren unseres Lebensstils ab. Nur 30 Prozent ist durch reine Genetik bestimmt.
Ob Menschen mit genetischem Alzheimer-Risiko dann tatsächlich daran erkranken, kann durch Lebensstil-Faktoren beeinflusst werden.
Und da ist noch mehr: «Wir gehen heute davon aus, dass auch bei Menschen mit einem genetischen Risiko zu beispielsweise Alzheimer Demenz, die Wahrscheinlichkeit des Durchbruchs der Erkrankungen zu 95 Prozent über Lebensstil-Faktoren bestimmt ist. Das ist eine erfreuliche Erkenntnis – weil wir Lebensstil-Faktoren anpassen können», so die Altersmedizinerin.
Kampf den Zombie-Zellen
Wer älter wird, sammelt in seinen Zellen auch einiges an Müll an. Der Mensch besteht aus etwa 100 Billionen Zellen. Manche der Zellen verenden täglich, andere alle paar Jahre. Einmal ausrangiert, werden diese zerstört, recycelt und durch Neue ersetzt. Grundsätzlich ein genialer Mechanismus der Natur. Aber eben auch anfällig für Fehler – ein Fall für die Biohacker.
Anti-Aging-Wissenschaftlerinnen forschen laut Max Gotzler schon länger an den aussergewöhnlichen Eigenschaften von Fisetin. Dieser Farbstoff, der in Obst und Gemüse steckt, soll laut Studien nicht nur Entzündungen reduzieren und die Effizienz von Zellen steigern, sondern auch noch einen wichtigen Prozess des Alterns verlangsamen. Einer der Hauptgründe für das Altern ist die Seneszenz. Seneszente Zellen sind Zellen, die beschädigt sind und eigentlich entfernt werden sollten.
Doch aus irgendeinem Grund bleiben sie in unseren Körper. «Zombie-Zellen» nennt Cellvie-Gründer Michael Greve sie. Im Laufe der Jahrzehnte häufen sich immer mehr von ihnen an. Mehr seneszente Zellen bedeuten mehr Zellgifte, mehr Zellschäden, mehr Alterung und mehr Krankheiten.
Zucker gegen Herzinfarkt
Ein Lösungsansatz könnten laut Biohackerinnen sogenannte «Senolytika» sein. In Studien mit Mäusen konnte gezeigt werden, dass sie den Alterungsprozess verzögern oder umkehren, indem sie die alten Zellen zerstören.
Auch in einer Pilotstudie mit nierenkranken Menschen zeigte sich eine deutliche Verbesserung der Blutwerte unter Einfluss von Senolytika. Es könnte also ein Vorteil sein, schreibt Biohacker Max Gotzler in «Der tägliche Biohacker», fisetinreiche Nahrungsmittel zu sich zu nehmen. Erdbeeren zum Beispiel.
Seneszente Zellen werden in Zukunft noch stärker auf dem Radar von Biohackerinnen und Altersforschenden erscheinen, da ist sich Max Gotzler sicher. Eine Firma aus Kalifornien habe etwa einen Zucker namens Cyclodextrin entwickelt. Dieser soll jegliche Ablagerungen aus den Arterien entfernen.
Laut Szenekenner Gotzler sprechen die Forschenden aber bereits vom Potenzial einer Pille, die täglich eingenommen, unser Herzinfarktrisiko auf null setzen soll. Die Marktreife sei jedoch wohl erst in einem Jahrzehnt erreicht.