«Nun warst du da, ein rosiges Baby mit auffällig dichtem, braunem Haar», schreibt die Grossmutter in einem Brief an ihren Enkel Yuri. «Neugierig öffnetest du deine grossen Augen und strecktest deine geballte Faust in die Höhe, ganz im Stil von Superman.»
An diesem 25. Juni 2022, als Yuri auf die Welt kommt, wissen alle, dass seine Tage gezählt sind – die Grossmutter, die Ärzte und die Eltern Rebecca und Daniel.
Eine Welt brach zusammen.
Wenige Wochen zuvor, im achten Monat der Schwangerschaft, haben Rebecca und Daniel erfahren, dass ihr ungeborenes Kind einen schweren Gendefekt hat. Seine Speiseröhre landet im Nichts, der Magen ist anstatt mit dem Darm mit der Lunge verbunden. Die Möglichkeit für eine starke geistige Behinderung ist gross. «Eine Welt brach zusammen», sagt Daniel. Rebecca hätte das Recht gehabt, die Schwangerschaft abzubrechen, aber sie sagt: «Ich konnte das nicht, weil ich seine Füsschen schon so gut gespürt habe.»
Der Natur ihren Lauf lassen
Die Eltern, beide Anfang 30, entscheiden sich für den palliativen Weg, ein noch sehr unbekannter Weg: das Kind gebären und der Natur ihren Lauf lassen. Das oberste Gebot dabei: «Es soll dem Kind so wohl wie möglich sein, seine Schmerzen so gering wie möglich», sagt die Kinderärztin Debora Gubler. Sie ist Oberärztin und Drahtzieherin des Angebots für Palliative Care bei Neugeborenen, das es im Kinderspital Zürich seit 2017 gibt.
Schon zwei Tage nach der Geburt kann die junge Familie nach Hause. Die Kinderspitex unterstützt sie dabei, ist rund um die Uhr auf Abruf. Yuri geht es den Umständen entsprechend gut. Durch eine Einrichtung am Bein bekommt er ein wenig Morphium und ab und zu ein Schmerz-Zäpfchen. Etwa zweimal täglich müssen die Eltern mit einer Spritze den Speichel aus der unvollständigen Speiseröhre saugen.
Viel Besuch
Ansonsten ist der Alltag der frisch gebackenen Familie ganz ähnlich wie bei anderen: Jeden Morgen spazieren Rebecca und Daniel mit dem Kinderwagen runter an den See, trinken einen Kaffee und essen ein Gipfeli. «Wir hätten sicherlich mehr unternehmen können. Aber wir hatten immer im Hinterkopf, dass Yuri sterben wird. Und wir wollten nicht, dass das unterwegs passiert.»
Dafür aber empfangen sie zu Hause viele Gäste, rund vierzig Personen lernt Yuri in den 17 Tagen seines Lebens kennen. «Irgendjemand hatte Yuri immer im Arm», sagt Daniel. «Wir wussten ja nicht, wie lange er lebt. Deshalb haben wir jede Sekunde geniessen wollen.»
Das Schönste und Schrecklichste im Leben trifft gleichzeitig ein.
Jeden Abend verabschieden sich die Eltern von Yuri, selbst aber schlafen sie kaum. Emotional durchlaufen sie eine Achterbahn: «Einerseits ist da Glück und Freude, weil wir unser Kind in den Armen halten», erklärt Rebecca. «Gleichzeitig ist da auch das Wissen, dass er bald sterben wird.» Daniel ergänzt: «Das Schönste und Schrecklichste im Leben trifft gleichzeitig ein.»
Erinnerungen schaffen – das ist ein wichtiger Aspekt der Palliative Care für Neugeborene. Wenn die Eltern Zeit mit ihrem Kind verbringen konnten, sei das sehr heilsam im Trauerprozess, erklärt die Kinderärztin Deborah Gubler. «Das Kind bekommt dadurch seinen Platz im Leben der Eltern und gibt ihnen die Möglichkeit, dass ihr Kind Spuren auf dieser Welt hinterlassen darf.»
Yuri stirbt in den Armen der Eltern
«Obwohl bei deiner Mutter die Milch da gewesen wäre, wurdest du von Tag zu Tag leichter», schreibt Yuris Grossmutter in ihrem Brief. «Du wurdest immer zarter und zerbrechlicher. Gegen das Ende deines Lebens nahmst du wieder die Embryostellung ein, deine Kleider wurden dir viel zu gross und es dünkte mich, als würde sich deine Entwicklung wieder zurückbilden. Trotzdem schien es dir gutzugehen. Du weintest sehr selten.»
Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwierig es wäre, wenn wir diese 17 Tage mit ihm nicht gehabt hätten.
Am 11. Juli 2022 stirbt Yuri in den Armen seiner Eltern. Die Trauer ist auch acht Monate später noch immer enorm. «Das Schwierigste ist, dass ich eigentlich im Café sitzen sollte, mit anderen Müttern und schreienden Kindern – und nicht im Büro.» Und doch sind die beiden unendlich dankbar, für die Zeit, die sie mit Yuri hatten, erklärt Daniel: «Es ist schwierig, aber ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwierig es wäre, wenn wir diese 17 Tage mit ihm nicht gehabt hätten.»