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Sinkende Spermienqualität Männliche Fruchtbarkeit in der Krise – Was lässt sich tun?

Die Qualität und Anzahl der Samenzellen sinkt seit Jahren. Mehr als zehn Prozent der Paare in der Schweiz ist deshalb ungewollt kinderlos – Tendenz steigend. «Mann» ist dem nicht einfach nur ausgeliefert.

Schwanger werden ist nicht bloss Frauensache. In den westlichen Industrieländern gibt es nämlich eine «Spermakrise». Zu diesem Schluss kommt Hagai Levine von der Hebräischen Universität in Jerusalem.

Der Umweltepidemiologe hat 185 Studien aus der ganzen Welt miteinander verglichen und schlägt Alarm: «Wir fanden in den letzten knapp 40 Jahren einen dramatischen Rückgang um mehr als 50 Prozent sowohl bei der Spermienkonzentration als auch bei der Gesamtzahl der Spermien bei Männern aus Nordamerika, Europa und Australien.»

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«Wir fanden einen dramatischen Rückgang um mehr als 50 Prozent fest»
Aus Puls vom 22.08.2022.
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Und auch in der Schweiz schwimmen die Spermien nicht so, wie sie sollten. Die Reproduktionsbiologin Rita Rahban und ihr Team haben in Genf über 14 Jahre lang insgesamt 2500 Rekruten untersucht. Ihr Fazit: «Ein Grossteil dieser Männer hat eine Spermienkonzentration, die unter den Normen der Weltgesundheitsorganisation WHO liegt.»

Junge Schweizer Männer haben schlechte Spermien

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Legende: SRF / Universität Genf

14 Jahre lang haben Forschende, Ärztinnen und die Schweizer Armee für eine gross angelegte Studie zusammengearbeitet. Bei gut 2500 jungen Schweizer Männern hat das Team die Qualität ihrer Spermien getestet. Das Resultat: Bei drei von fünf Männern zwischen 18 und 22 Jahren liegt mindestens ein Kennwert unterhalb dessen, was die Weltgesundheitsorganisation WHO als Grenzwert für eine gute, männliche Zeugungsfähigkeit festlegt.

  • Bei fünf Prozent der Schweizer Rekruten liegen alle drei Kriterien unter dem Grenzwert der WHO. Bei ihnen wird ein Kinderwunsch auf natürliche Art und Weise kaum zu erfüllen sein.
  • Bei 16 Prozent liegen zwei Kriterien unterhalb der festgelegten Normwerte.
  • Bei 41 Prozent ist ein Parameter unter dem Soll.
  • 38 Prozent erfüllen alle Kriterien der WHO und haben gute Chancen, dass die Frau innerhalb eines Jahres schwanger wird.

Was aber macht ein Spermium erfolgreicher als das andere? In erster Linie geht es um ihre Gesamtzahl: je mehr, desto besser. Denn sie müssen eine Strecke von ungefähr 15 Zentimetern bis zur Eizelle zurücklegen und unter normalen Bedingungen schaffen es von den mehreren Millionen Samenzellen gerade mal 300 bis 500.

Aber auch die Form der Spermien und ihre Beweglichkeit sind ausschlaggebend, ob sie eine Eizelle befruchten können.

So definiert die WHO gute Spermien

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Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Kriterien, nach welchen das medizinisch untersuchte Sperma eingestuft wird. Fachsprachlich wird diese Beurteilung der Zeugungsfähigkeit des Mannes «Spermiogramm» genannt.

  • Anzahl der Samenzellen: Die Konzentration der Samenzelle beträgt mindestens 15 Millionen Spermien pro Milliliter Ejakulat. Darunter wird in der Fachsprache eine Oligozoospermie verstanden. Das Ejakulatvolumen beträgt mindestens 1.5 Milliliter.
  • Form des einzelnen Spermiums: Bei der Morphologie werden drei verschiedene Bereiche eines Spermiums begutachtet: der Kopf, das Mittelstück und der Schwanz. Bei allen drei Bereichen kann es zu Abweichungen kommen. So können beispielsweise mehrere Schwänze angelegt oder der Kopf, der die Erbinformation enthält, zu klein oder zu gross sein. Tatsächlich sind die meisten Spermien nicht normal geformt, sodass laut WHO schon bei vier Prozent gesund geformter Zellen der Normwert erreicht wird.
  • Beweglichkeit: Hier unterscheidet man zwischen schnellen Vorwärtsbewegungen (schnell progressiv), langsamer Vorwärtsbewegung (progressiv), im Kreis schwimmen oder nur lokal sich fortbewegen (nicht progressiv) und keine Bewegung (immotil). Als Referenzwerte gelten hier, dass sich insgesamt 40 Prozent der Spermien überhaupt (Gesamtmotilität) und davon wiederum ein Drittel (32 Prozent) progressiv, also zielgerichtet, bewegen sollten.

Und so nebenbei – Spermien sind nicht grösser als 0.06 Millimeter. Im durchschnittlichen Ejakulat sind etwa 39 Millionen dieser kleinen Schwimmer enthalten. Würde man die einzelnen Samenzellen eines Ejakulats hintereinander aufreihen, ergäbe das eine Gesamtlänge von fast 2.5 Kilometern.

Männer sprechen weniger über ihre Unfruchtbarkeit

Direkt von ungenügender Spermienqualität betroffen sind auch Marc Koller und seine Partnerin Lara Thurnheer. Es sei eine Berg- und Talfahrt, wenn es ums Kinderkriegen geht, so die Erfahrung des Paars. Die Untersuchung beim Urologen zeigte, dass die Spermienqualität zu schlecht sei, um auf natürlicher Art die Eizelle der Frau zu befruchten: Die Menge der Spermien sowie deren Form und Beweglichkeit seien zu weit unter dem Normwert.

In seiner Männlichkeit fühlt sich Koller deshalb nicht gekränkt. Vielmehr findet der 33-Jährige, dass viel zu wenig über diese Problematik gesprochen wird, das will er anders machen.

Internationale Studien zeigen, dass sich Frauen zu diesem Thema viel häufiger austauschen. Zudem ist auch besser dokumentiert, wie belastend diese Situation für Frauen sind.

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«Es ist nicht nur eine Belastung für das Paar, sondern für das ganze Umfeld»
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Wie es dabei den Männern geht, wird in der Forschung häufig ausgeklammert. Anders eine Bachelorarbeit aus der Schweiz. Ihr Fazit: «Die Mehrheit der Befragten empfinden die Unfruchtbarkeit als lebenseinschneidendes Ereignis mit tiefgreifender Belastung.» Das ist bei Marc Koller nicht anders.

Gründe für die Spermakrise

Verantwortlich für den Spermienschwund sind laut dem israelischen Umweltepidemiologen Hagai Levine vor allem Chemikalien in Plastikprodukten, Kosmetikartikeln oder Pestiziden. In Tierversuchen konnten drastische Auswirkungen aufgezeigt werden.

So können hormonaktive Stoffe – Stoffe also, die unser Hormonsystem beeinflussen – bereits in kleinen Dosen die Aktivität der körpereigenen Hormone imitieren oder verändern. Mäuse wurden durch Weichmacher unfruchtbar und männliche Frösche, die in Wasser mit hormonaktiven Stoffen schwammen, produzierten sogar Eizellen und keine Spermien mehr.

Diese Effekte direkt auf den Menschen zu übertragen und nachzuweisen, ist jedoch schwierig, so der Human- und Umwelttoxikologe Daniel Dietrich. Er macht auch Einschätzungen für die WHO zu den diversen Stoffen.

Gewisse Stoffe in der Schweiz verboten

In der Schweiz sind nachweislich gefährliche hormonaktive Stoffe verboten, weiss Martine Bourqi-Pittet. Sie leitet die Sektion Risikobeurteilung von Chemikalien beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). «Wir können aber nicht einfach alle Stoffe pauschal verbieten. Denn sie werden breit angewendet und man kann auf deren Gebrauch nicht verzichten.»

Wenn neue Stoffe auf den Markt kommen, brauche es eine klare Risikoprüfung. Stoffe, die aber früher verwendet wurden, können nicht mehr aus der Natur entfernt werden und brauchen viele hundert Jahre, bis sie abgebaut sind.

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«Wir können einfach nicht alles pauschal verbieten»
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Der Tipp der Chemikerin: Wenn man den ganzen Tag aus einer Plastikflasche getrunken hat, sollte man zu Hause stattdessen ein Glas verwenden. Und wenn tagsüber grosszügig Sonnencreme aufgetragen wurde, kann die Gesichtscreme abends weggelassen werden. Denn sie enthalten Phthalate.

Diese Chemikalien kommen nicht nur in kosmetischen Produkten zum Einsatz, sondern werden auch als Weichmacher für Kunststoffe verwendet, beispielsweise in Regenjacken, Schwimmbecken, Verpackungsmaterial oder Kabelummantelungen.

No-Go: Rauchen in der Schwangerschaft

Zurzeit sieht die Forschungsgemeinschaft vor allem zwei Ursachen für die mangelnde Spermienqualität. Zum einen wird sie bereits im Mutterleib beeinflusst.

So konnte eine Schweizer Studie einen Zusammenhang herstellen, wenn eine Frau Phtalaten ausgesetzt war. War die werdende Mutter berufsbedingt Chemikalien und Pestiziden ausgesetzte, konnte später bei ihrem Sohn eine schlechtere Spermienqualität nachgewiesen werden.

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Rauchen in der Schwangerschaft schadet auch den Spermien
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Eine Studie aus Genf zeigte, dass auch Rauchen in der Schwangerschaft einen Einfluss hat – vor allem im ersten Trimester der Schwangerschaft, wenn die Hoden ausgebildet werden. «Mütterliche Tabakexposition während des Fötusalters schlägt sich im Erwachsenenalter in einer geringeren Spermienkonzentration nieder», fasst die Reproduktionsbiologin ihre Erkenntnisse zusammen.

Doch auch der eigene Lebensstil der Männer hat Konsequenzen. Sind die Spermien nicht durch Krankheit, Gene oder Vorbelastung im Fötusalter beschädigt, kann «Mann» der Spermienqualität nachhelfen.

Tipps, um die Spermienqualität zu verbessern

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Nicht rauchen: Jeder Zug an der Zigarette schadet den Spermien. Denn Rauchen scheint zu Entzündungsreaktionen im männlichen Fortpflanzungstrakt zu führen.

Ausgewogen ernähren: Laut Schätzungen sinkt pro zehn Kilogramm Übergewicht die Fruchtbarkeit um zehn Prozent.

Regelmässig bewegen: Besonders förderlich ist moderates Training in Ausdauersportarten wie Joggen oder Schwimmen, das den Kreislauf in Schwung bringt.

Regelmässiger Samenerguss: Zwei bis drei Orgasmen pro Woche scheinen optimal für die Spermienqualität zu sein.

Puls kompakt: Vier Tipps für fitte Spermien

Auch der 33-jährige Marc Koller hat alles Mögliche unternommen, um seine Spermienqualität zu verbessern. Er hat mit dem Rauchen aufgehört und zehn Monate auf Alkohol verzichtet. Zudem diverse Supplemente wie Zink, Selen und Vitamine eingenommen. Die Studienlage zur Wirksamkeit solcher Zusatzpräparate ist jedoch sehr dünn. Wie gross ihr Einfluss auf die Spermienqualität ist, bleibt deshalb offen.

Das Spermiogramm von Koller hatte sich nach der Umstellung des Lebensstils leicht verbessert – aber nicht so, dass eine Befruchtung der Eizelle direkt auf natürlichem Weg funktionieren würde. Er und seine Partnerin haben sich schliesslich für eine künstliche Befruchtung durch Insemination entschieden.

Künstliche Befruchtung: Insemination, IVF, ICSI

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Wenn die Samen nicht auf natürlichem Weg zur Eizelle finden, gibt es andere Möglichkeiten.
Eine ist die sogenannte Insemination. Mit Hormonspritzen wird die Reifung der Eizellen bei der Frau stimuliert. Daneben wird das Sperma des Mannes im Labor aufbereitet, dabei werden die Samenzellen von der Samenflüssigkeit getrennt.

Im Labor werden möglichst viele befruchtungsfähige Samenzellen herausgefiltert. Diese Spermien werden mit einer Einführspritze in die Gebärmutter eingebracht – und zwar zum Zeitpunkt des Eisprungs.

Die Befruchtung kann somit im Körper der Frau stattfinden. Die Kosten für die ersten drei Inseminationen übernimmt die Krankenkasse. 

Führt diese Methode nicht zum erwünschten Ergebnis, gibt es die IVF (In-Vitro-Fertilisation) und die ICSI (Intrazytoplasmatische Spermieninjektion). Für beide Befruchtungsmethoden muss die Frau sich zwei Wochen lang Hormone spritzen, damit möglichst viele Eizellen heranreifen. Sind genügend Eizellen vorhanden, werden diese der Frau unter leichter Narkose aus den Eierstöcken entnommen. 

Auch hier werden aus dem Sperma des Mannes befruchtungsfähige Spermien ausgewählt. 

Bei der IVF wird die Samenflüssigkeit im Labor mit den Eizellen zusammengebracht. Das Spermium gelangt selbständig in die Eizelle. Bei der ICSI wird das auserwählte Spermium unter dem Mikroskop direkt in die Eizelle injiziert. 

Anschliessend kommt die Eizelle in den Brutschrank – war die Befruchtung erfolgreich, beginnt sie sich zu teilen und wird zum Embryo.

Zwischen dem zweiten und maximal sechsten Tag nach der Eizellentnahme wird der Embryo mit einem dünnen Katheter in die Gebärmutter der Frau übertragen, wo er sich im Optimalfall einnistet und zum Baby heranwächst.  

  • Selbstkosten IVF: 5000 bis 8000 Franken
  • Selbstkosten ICSI: 6000 bis 10'000 Franken

Bei Marc Koller und Lara Thurnheer war die Insemination zunächst erfolgreich, aber schon nach knapp drei Wochen verloren sie den Embryo. Für beide ist der Prozess belastend – psychisch wie auch physisch. Die Hormontherapien seien eine Tortur, erzählt Lara Turnheer. Sie strapaziert den Körper und dazu kämen die vielen Arzttermine. Das Leben fühle sich in dieser Zeit sehr fremdbestimmt an.

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«Es gibt auch andere Wege eine Familie zu gründen»
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Eine weitere Insemination, IVF oder ICSI ist darum für das Paar zurzeit kein Thema. Ihre Hoffnung geben sie dennoch nicht auf und interessieren sich für eine Adoption – sie sind schon mittendrin im Adoptionsprozess. Auch mit schlechten Spermien werden sie so vielleicht ihr Familienglück finden.

SRF 1, Puls, 22.08.2022, 21:05 Uhr

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