Schwanger werden ist nicht bloss Frauensache. In den westlichen Industrieländern gibt es nämlich eine «Spermakrise». Zu diesem Schluss kommt Hagai Levine von der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Der Umweltepidemiologe hat 185 Studien aus der ganzen Welt miteinander verglichen und schlägt Alarm: «Wir fanden in den letzten knapp 40 Jahren einen dramatischen Rückgang um mehr als 50 Prozent sowohl bei der Spermienkonzentration als auch bei der Gesamtzahl der Spermien bei Männern aus Nordamerika, Europa und Australien.»
Und auch in der Schweiz schwimmen die Spermien nicht so, wie sie sollten. Die Reproduktionsbiologin Rita Rahban und ihr Team haben in Genf über 14 Jahre lang insgesamt 2500 Rekruten untersucht. Ihr Fazit: «Ein Grossteil dieser Männer hat eine Spermienkonzentration, die unter den Normen der Weltgesundheitsorganisation WHO liegt.»
Was aber macht ein Spermium erfolgreicher als das andere? In erster Linie geht es um ihre Gesamtzahl: je mehr, desto besser. Denn sie müssen eine Strecke von ungefähr 15 Zentimetern bis zur Eizelle zurücklegen und unter normalen Bedingungen schaffen es von den mehreren Millionen Samenzellen gerade mal 300 bis 500.
Aber auch die Form der Spermien und ihre Beweglichkeit sind ausschlaggebend, ob sie eine Eizelle befruchten können.
Und so nebenbei – Spermien sind nicht grösser als 0.06 Millimeter. Im durchschnittlichen Ejakulat sind etwa 39 Millionen dieser kleinen Schwimmer enthalten. Würde man die einzelnen Samenzellen eines Ejakulats hintereinander aufreihen, ergäbe das eine Gesamtlänge von fast 2.5 Kilometern.
Männer sprechen weniger über ihre Unfruchtbarkeit
Direkt von ungenügender Spermienqualität betroffen sind auch Marc Koller und seine Partnerin Lara Thurnheer. Es sei eine Berg- und Talfahrt, wenn es ums Kinderkriegen geht, so die Erfahrung des Paars. Die Untersuchung beim Urologen zeigte, dass die Spermienqualität zu schlecht sei, um auf natürlicher Art die Eizelle der Frau zu befruchten: Die Menge der Spermien sowie deren Form und Beweglichkeit seien zu weit unter dem Normwert.
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In seiner Männlichkeit fühlt sich Koller deshalb nicht gekränkt. Vielmehr findet der 33-Jährige, dass viel zu wenig über diese Problematik gesprochen wird, das will er anders machen.
Internationale Studien zeigen, dass sich Frauen zu diesem Thema viel häufiger austauschen. Zudem ist auch besser dokumentiert, wie belastend diese Situation für Frauen sind.
Wie es dabei den Männern geht, wird in der Forschung häufig ausgeklammert. Anders eine Bachelorarbeit aus der Schweiz. Ihr Fazit: «Die Mehrheit der Befragten empfinden die Unfruchtbarkeit als lebenseinschneidendes Ereignis mit tiefgreifender Belastung.» Das ist bei Marc Koller nicht anders.
Gründe für die Spermakrise
Verantwortlich für den Spermienschwund sind laut dem israelischen Umweltepidemiologen Hagai Levine vor allem Chemikalien in Plastikprodukten, Kosmetikartikeln oder Pestiziden. In Tierversuchen konnten drastische Auswirkungen aufgezeigt werden.
So können hormonaktive Stoffe – Stoffe also, die unser Hormonsystem beeinflussen – bereits in kleinen Dosen die Aktivität der körpereigenen Hormone imitieren oder verändern. Mäuse wurden durch Weichmacher unfruchtbar und männliche Frösche, die in Wasser mit hormonaktiven Stoffen schwammen, produzierten sogar Eizellen und keine Spermien mehr.
Diese Effekte direkt auf den Menschen zu übertragen und nachzuweisen, ist jedoch schwierig, so der Human- und Umwelttoxikologe Daniel Dietrich. Er macht auch Einschätzungen für die WHO zu den diversen Stoffen.
Gewisse Stoffe in der Schweiz verboten
In der Schweiz sind nachweislich gefährliche hormonaktive Stoffe verboten, weiss Martine Bourqi-Pittet. Sie leitet die Sektion Risikobeurteilung von Chemikalien beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). «Wir können aber nicht einfach alle Stoffe pauschal verbieten. Denn sie werden breit angewendet und man kann auf deren Gebrauch nicht verzichten.»
Wenn neue Stoffe auf den Markt kommen, brauche es eine klare Risikoprüfung. Stoffe, die aber früher verwendet wurden, können nicht mehr aus der Natur entfernt werden und brauchen viele hundert Jahre, bis sie abgebaut sind.
Der Tipp der Chemikerin: Wenn man den ganzen Tag aus einer Plastikflasche getrunken hat, sollte man zu Hause stattdessen ein Glas verwenden. Und wenn tagsüber grosszügig Sonnencreme aufgetragen wurde, kann die Gesichtscreme abends weggelassen werden. Denn sie enthalten Phthalate.
Diese Chemikalien kommen nicht nur in kosmetischen Produkten zum Einsatz, sondern werden auch als Weichmacher für Kunststoffe verwendet, beispielsweise in Regenjacken, Schwimmbecken, Verpackungsmaterial oder Kabelummantelungen.
No-Go: Rauchen in der Schwangerschaft
Zurzeit sieht die Forschungsgemeinschaft vor allem zwei Ursachen für die mangelnde Spermienqualität. Zum einen wird sie bereits im Mutterleib beeinflusst.
So konnte eine Schweizer Studie einen Zusammenhang herstellen, wenn eine Frau Phtalaten ausgesetzt war. War die werdende Mutter berufsbedingt Chemikalien und Pestiziden ausgesetzte, konnte später bei ihrem Sohn eine schlechtere Spermienqualität nachgewiesen werden.
Eine Studie aus Genf zeigte, dass auch Rauchen in der Schwangerschaft einen Einfluss hat – vor allem im ersten Trimester der Schwangerschaft, wenn die Hoden ausgebildet werden. «Mütterliche Tabakexposition während des Fötusalters schlägt sich im Erwachsenenalter in einer geringeren Spermienkonzentration nieder», fasst die Reproduktionsbiologin ihre Erkenntnisse zusammen.
Doch auch der eigene Lebensstil der Männer hat Konsequenzen. Sind die Spermien nicht durch Krankheit, Gene oder Vorbelastung im Fötusalter beschädigt, kann «Mann» der Spermienqualität nachhelfen.
Auch der 33-jährige Marc Koller hat alles Mögliche unternommen, um seine Spermienqualität zu verbessern. Er hat mit dem Rauchen aufgehört und zehn Monate auf Alkohol verzichtet. Zudem diverse Supplemente wie Zink, Selen und Vitamine eingenommen. Die Studienlage zur Wirksamkeit solcher Zusatzpräparate ist jedoch sehr dünn. Wie gross ihr Einfluss auf die Spermienqualität ist, bleibt deshalb offen.
Das Spermiogramm von Koller hatte sich nach der Umstellung des Lebensstils leicht verbessert – aber nicht so, dass eine Befruchtung der Eizelle direkt auf natürlichem Weg funktionieren würde. Er und seine Partnerin haben sich schliesslich für eine künstliche Befruchtung durch Insemination entschieden.
Bei Marc Koller und Lara Thurnheer war die Insemination zunächst erfolgreich, aber schon nach knapp drei Wochen verloren sie den Embryo. Für beide ist der Prozess belastend – psychisch wie auch physisch. Die Hormontherapien seien eine Tortur, erzählt Lara Turnheer. Sie strapaziert den Körper und dazu kämen die vielen Arzttermine. Das Leben fühle sich in dieser Zeit sehr fremdbestimmt an.
Eine weitere Insemination, IVF oder ICSI ist darum für das Paar zurzeit kein Thema. Ihre Hoffnung geben sie dennoch nicht auf und interessieren sich für eine Adoption – sie sind schon mittendrin im Adoptionsprozess. Auch mit schlechten Spermien werden sie so vielleicht ihr Familienglück finden.