Oben an der Glaskuppel der U-Boot-Luke schlägt das Wasser lautstark zusammen. Dann wird es ruhig. Nur die Sauerstoff-Zufuhr zischt leise. Das U-Boot P-63 taucht in die Tiefe.
Beim Blick durch die Kuppel sieht man schon nach wenigen Sekunden die Oberfläche nicht mehr. Das Wasser erscheint im Restlicht zuerst giftig grün. Dann wird das Grün mit jedem Meter etwas dunkler. Nach einigen Minuten sieht man beim Blick durch die Kuppel nur noch pechschwarz.
Geschichten fertig erzählen
Durch das grosse Bullauge am Bug des U-Boots blickt Jörg Mathieu hinaus, wo die Partikel im Wasser des Scheinwerferlichts tanzen. Er hat diese Expedition in die Tiefe initiiert. Mathieu ist seit 35 Jahren ein passionierter Wrackjäger und Schatzsucher. Und Gründungsmitglied der Organisation «Nautic Discovery», die im In- und Ausland mit modernster Technik auf Wracksuche geht. «Ich glaube nicht, dass je jemand mit einem U-Boot so tief in den Lago Maggiore getaucht ist», hält Mathieu fest.
Er möchte die Geschichten von versunkenen Schiffen fertig erzählen. Heute soll es jene der «Mercedes» sein. Der Tauchgang im U-Boot ist einem glücklichen Zufall geschuldet. Das Schweizer U-Boot P-63, das sonst Touristen zu bekannten Wracks bringt, wurde für Tiefentests in den Lago Maggiore gebracht. Mathieu erfuhr davon und so wurde die erste richtige Erkundung und Dokumentation der «Mercedes» nicht nur per Roboter, sondern sogar im U-Boot möglich. Eine riesige Chance sei das, meint Mathieu.
Navigiert wird das U-Boot von Paul Bründler. Ein erfahrener Pilot, der schon so manch bekanntes Wrack angesteuert hat. Aber noch nie ein bis dato verschollenes.
Die Nadel im Heuhaufen
Die Suche nach dem Wrack beginnt aber schon viel früher. Mithilfe einer sogenannten Multibeam-Aufnahme. Das ist eine durch hochauflösende Sonartechnik entstandene 3D-Karte des Seegrunds mit all seinen Erhebungen. Darauf erkennt das geübte Auge Anomalien. Aber eine Anomalie ist noch lange kein gesunkenes Schiff.
Modernste Technik hilft, das Wrack aufzuspüren
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Bild 1 von 2. Ein Beispiel einer Multibeam-Aufnahme. Geübte Augen können auf solchen Aufnahmen Anomalien erkennen. Bildquelle: Jörg Mathieu.
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Bild 2 von 2. Das autonome Unterwassergefährt ähnelt einem Torpedo. Das Gefährt scannt auf dem Seegrund Anomalien. Bildquelle: Jörg Mathieu.
Um ein Wrack schliesslich ausmachen zu können, braucht es weitere Technik. Konkret ein autonomes Unterwassergefährt (AUV), das einem Torpedo ähnelt und mit Sonar ausgestattet ist. Die Wrackjäger schicken es auf Höhe der gefundenen Anomalien in die Tiefe und scannen Meter für Meter den Seegrund. So erhält man genauere Angaben zu den Umrissen. Eine mühselige, langwierige Aufgabe. Denn statt eines Wracks stösst man nur zu oft auf Holz, Felsen oder versenkten Bauschutt. Deshalb verwundert es nicht, dass eine solche Suche häufig Monate oder gar Jahre dauert.
In all den Jahren hat Mathieu etliche Wracks aufgespürt – vom kleinen Segelboot bis zum legendären Schiff. Für Schlagzeilen sorgte beispielsweise 2002 der Fund des Thunersee-Raddampfers «Bellevue». Mathieu gehörte damals zum Team, das das Schiff 138 Jahre nach dem Untergang in seinem nassen Grab entdeckte.
Berühmte Schweizer Wracks
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Bild 1 von 7. Die «Bellevue» liegt vor Oberhofen im Thunersee in über 100 Metern Tiefe. Entdeckt hat sie dort 2002 ebenfalls ein Team um Jörg Mathieu. Die «Bellevue» war einst das erste Dampfschiff auf dem Thunersee. Später wurde sie zu einem Transportschiff umfunktioniert und sank schliesslich in einem Sturm. Bildquelle: Jörg Mathieu.
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Bild 2 von 7. Das italienische Torpedoboot T19, «Locusta». Jörg Mathieu träumt davon, es im Lago Maggiore zu finden. Es verschwand im Januar 1896 bei einem Sturm in den Fluten des Sees. Obwohl die Suchaktionen sofort begannen, wurden weder die T19 noch die zwölf Männer ihrer Besatzung gefunden. Auch Jahre danach gab es Suchaktionen – bis heute ohne Erfolg. Bildquelle: Museuo Storico della Guardia di Finanza.
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Bild 3 von 7. Die «Jura» zählt zu den berühmtesten Süsswasserwracks in Europa. Sie liegt im Bodensee bei Bottighofen (TG) in 40 Metern Tiefe, was sie für unzählige Tauchfans erreichbar macht. Die «Jura» sank 1864 nach einer Kollision mit der «Stadt Zürich» im dichten Nebel innerhalb von wenigen Minuten. Bildquelle: Imago Images / OceanPhoto.
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Bild 4 von 7. Eines der spektakulärsten Wracks in Schweizer Seen ist die «Rhône». Das Dampfschiff sank 1883 zwischen Lausanne und Evian im Genfersee. Es ruht in 300 Metern Tiefe und konnte erst einhundert Jahre nach dem Untergang mithilfe eines Tauchroboters entdeckt werden. Bildquelle: Musées de Nyon-Jules Gachet.
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Bild 5 von 7. Das 60-Personen-Boot «Vitzanove» wurde 1999 Opfer des Sturms «Lothar» und sank im Vierwaldstättersee. Zwei Männer waren an Bord. Sie überlebten. Das Schiff liegt in knapp 100 Metern Tiefe. Bildquelle: www.subspirit.ch.
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Bild 6 von 7. Der Raddampfer «Säntis» wurde vor 90 Jahren im Bodensee versenkt. Die Schweizerische Bodensee Schifffahrt (SBS) wollte so Kosten sparen, weil das Schiff zu diesem Zeitpunkt nicht mehr fahrtüchtig war. Nun gibt es Pläne, das Schiff zu heben und auszustellen. Bildquelle: SBS AG.
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Bild 7 von 7. Eines der legendärsten Wracks in den Schweizer Seen ist kein Schiff, sondern ein Auto. Das Cabriolet der belgischen Königin Astrid. Sie starb 1935 bei einem Unfall in Küssnacht am Rigi. Ihr trauernder Ehemann, König Leopold III., liess den Wagen auf Höhe von Schloss Meggenhorn im See versenken, wo es noch heute in 200 Metern Tiefe liegen soll. Bildquelle: Keystone / Photopress-Archiv.
Auch auf dem Lago Maggiore waren etliche Einsätze über mehrere Jahre hinweg nötig. Im Fokus der Suche lag jedoch eigentlich das Wrack des italienischen Torpedobootes T19, der «Locusta». Sie war am 8. Januar 1896 während eines Sturms mit zwölf Besatzungsmitgliedern gesunken.
Die «Mercedes»: ein schöner «Beifang»
Als bei einer der jüngsten Suchaktionen die Sonar-Bilder aus der Tiefe eindeutige Hinweise auf ein Wrack lieferten, war die Spannung gross. Und die Überraschung umso grösser, als auf den ersten groben Bildern eines Tauchroboters nicht die «Locusta», sondern die «Mercedes» erschien.
Damit hätten die Wracksucher nicht gerechnet. Denn die «Mercedes» war laut Überlieferungen rund einen Kilometer von der jetzigen Fundstelle entfernt gesunken. Man hatte sie all die Jahre in einer Tiefe von 130 bis 150 Metern vermutet. Und jetzt also die Entdeckung auf 270 Metern.
Tod auf dem Schiff
Aber was wird Jörg Mathieu jetzt im U-Boot zu sehen bekommen? Er hofft auf gestochen scharfe Bilder. Und würde gerne auch den Schaden begutachten, der damals das Ende des stolzen Bootes bedeutete.
Die «Mercedes» war am 8. Juli 1928 aus nicht geklärten Gründen mit einem italienischen Passagierschiff kollidiert und sank danach innerhalb weniger Minuten. Die sieben Passagiere an Bord und ein Besatzungsmitglied konnten von einem mutigen Passagier des zweiten Schiffes gerettet werden, das kaum Schaden davongetragen hatte. Nur der 22-jährige Bootsführer und Maschinist schaffte es nicht von Bord. Er wurde vermutlich beim Crash eingeklemmt und samt Boot in die Tiefe gerissen.
Doch weshalb entdeckte man das Wrack nun an einem vollkommen anderen Ort als immer gedacht? «Nach dem Zusammenstoss ist es wahrscheinlich zuerst nur knapp unter die Wasseroberfläche gesunken und eine Weile dort getrieben, bevor es der Lago Maggiore für immer verschlang», mutmasst Jörg Mathieu.
«Ein Fenster in die Geschichte»
Zurück in der Gegenwart: Nach rund 30 Minuten nähert sich das U-Boot der Stelle in 270 Metern Tiefe, an der die «Mercedes» liegt. Gut zehn Meter vor dem Grund tauchen auf dem Bildschirm des Sonargeräts erste Umrisse eines Objekts auf. Sie werden immer klarer, bis man sehr deutlich einen Schiffsrumpf erkennt.
Hier sieht man, was nach der Kollision vor fast 100 Jahren aus dem Schiff geworden ist.
Das U-Boot ist nicht mehr weit entfernt vom Wrack. 267, 268, 269 … Meter für Meter nähert sich das U-Boot dem Seegrund. Alle blicken gespannt durch das grosse Bullauge. Und dann: «Schau mal, schau mal, die Reling», ruft Jörg Mathieu begeistert. «Das ist der Hammer!» Das Wrack wirkt durch die gebogene Scheibe des U-Boots zum Anfassen nah. «Das ist wie ein Fenster in die Geschichte», findet Mathieu. «Hier sieht man, was nach der Kollision vor fast 100 Jahren aus dem Schiff geworden ist.»
Der Pilot Paul Bründler navigiert das U-Boot vorsichtig rund um das Wrack. Feinste Bewegungen am kleinen Steuerhebel sind gefragt, um das U-Boot in der richtigen Position zu halten. Schliesslich möchte er das Wrack keinesfalls touchieren. Und auch den Boden nicht. Letzteres würde Sedimente aufwirbeln und die Sicht gegen null sinken lassen. Und damit wäre auch die Chance auf gute Bilder der Aussenbord-Kamera vertan.
Das U-Boot erreicht den Bug. Ganz deutlich sieht man die Schäden, die beim Zusammenstoss 1928 entstanden sind und zum Untergang führten. Die Kameras fangen alles ein.
Wozu dieser immense Aufwand?
Aber abgesehen von den spektakulären Bildern des Wracks: Warum macht Jörg Mathieu das? Das Schiff bleibt auf dem Grund des Sees. Gold und Edelsteine à la Hollywood-Schatzsucher-Film gibt es hier auch nicht.
Wir sind die Ersten, die hier sehen, was 1928 nach dem Untergang passiert ist.
Er muss nicht lange überlegen: «Abenteuer. Entdeckergeist. Wir sind die Ersten, die hier sehen, was 1928 nach dem Untergang passiert ist. Wir haben dieses Wrack entdeckt. Das ist doch toll», meint er strahlend und schiebt nach: «Denn wo kann man heute noch etwas entdecken?» Und was für ihn auch zählt: Mit diesen Aufnahmen schreibt er das letzte Kapitel in der Geschichte der «Mercedes».
Bald der nächste Fund?
«Die Sicht war super heute. Jetzt haben wir anständige Aufnahmen. Das ist absolut top», resümiert Mathieu, als das U-Boot langsam wieder aufsteigt.
Und was ist mit der «Locusta», die Mathieu und sein Team eigentlich finden wollten? Sie als Erster zu entdecken, ist seit Jahren einer seiner grossen Träume. «Die Suche geht weiter», meint er mit einem verschmitzten Lächeln und schiebt nach: «Wracksucher brauchen vor allem eines: viel Ausdauer.»