«Pascale! Wärst du bereit, für eine Sendung in weniger als drei Wochen Rätoromanisch zu lernen? Du musst Dich aber ein wenig reinknien!» Rätoromanisch lernen in so kurzer Zeit? Das klingt verrückt. Aber auch sehr spannend! Denn Rätoromanisch lernen schwirrt mir schon länger im Kopf herum.
Seit zwölf Jahren bin ich mit meiner Familie sehr oft in Brigels – wo wir ein Ferienhaus haben. Die Einheimischen sprechen Rätoromanisch, genauer gesagt Sursilvan, eines der fünf Idiome des Rätoromanischen.
Unterstützt werde ich von den Sprachlern-Coaches Matthew und Michael Youlden. Die Zwillinge sind 40 Jahre alt, kommen aus England und sprechen über 25 Sprachen. Darunter sind geläufige Sprachen wie Deutsch, Italienisch oder Spanisch, aber auch Minoritätssprachen wie Gälisch oder Obersorbisch.
Die beiden Sprachwissenschaftler haben eine eigene Lernmethode entwickelt und auch schon Türkisch oder Maltesisch in nur einer Woche gelernt. Rätoromanisch können sie noch nicht – doch das soll sich jetzt ändern. Jedenfalls haben sie sich bereit erklärt, mit mir zusammen Sursilvan zu lernen.
Der Start des Selbstversuchs
Für unseren gemeinsamen Lernstart kommen Michael und Matthew zwei Tage nach Brigels. Sie sind zum ersten Mal in der Surselva und sind begeistert von Dorf und Sprache. In Brigels wird überall Sursilvan gesprochen: beim Bäcker, beim Metzger, in der Cascharia, in den Restaurants, auf der Strasse.
Mein Ziel ist es, mich mit meinen Freunden und Bekannten aus Brigels in ihrem Idiom unterhalten zu können. Nur ein Brot bestellen können in der Bäckerei, das reicht mir nicht – auch wenn ich grossen Respekt habe vor meinem Ziel.
Ich bin gespannt, wie die beiden Sprach-Freaks eine neue Fremdsprache angehen und frage mich, welche Strategien sie dabei nutzen. Natürlich habe ich mich als «Puls»-Moderatorin ein wenig in die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse über smartes Lernen eingelesen. Ob die beiden die Tipps der Neurowissenschaft in ihrer Methodik umsetzen?
Motivation ist das A und O
Schon bei unserem ersten Treffen überraschen sie mich. Zwar liegen vor uns über 20 Lehrbücher mit Vokabeln, Konjugationstabellen und Übersetzungs-Übungen. Aber statt konventionell im Lehrbuch Lektion 1 aufzuschlagen, schalten die beiden das Radio ein und zücken Stifte und Post-its.
«Um eine neue Sprache zu lernen, musst Du voll in sie und ihre Kultur eintauchen», erklärt Matthew. «Wir werden einerseits aktiv lernen, also so richtig mit Büchern, aber auch passiv», ergänzt Michael. «Dazu gehört viel Radio oder Podcasts hören, fernsehen und mit Einheimischen sprechen.»
Am wichtigsten ist allerdings die Motivation: «Nur wenn die hoch ist, wirst du jeden Tag aufstehen und sofort weiter lernen wollen», erklärt Matthew. Mein Antrieb ist tatsächlich sehr gross!
Post-its pflastern die Wohnung
Und dann geht’s schon los: Während im Hintergrund Radio Rumantsch läuft, schreiben wir mit den Post-its in der ganzen Wohnung Gegenstände auf Sursilvan an. Die Eier, die Milch und die Butter im Kühlschrank (uovs, latg, pischada), die Lampe, das Sofa und den Tisch im Wohnzimmer (ampla, divan, meisa) und den Spiegel, die Zahnbürste und das WC im Badezimmer (specul, barschul da dents, tualetta) .
Ob die Wörter korrekt sind oder wie man sie ausspricht, davon haben wir noch keine Ahnung. Auf jeden Fall bekomme ich bereits ein erstes Gefühl für die Sprache und schreibe auch gleich die passenden Verben zu den Subjekten hin. Wir schreiben also zum Beispiel: «Türe» und «öffnen» auf ein Post-it (porta, arver).
Das Gute an den Post-its: Weil man sie dauernd vor der Nase hat, ist Vokabeln lernen auf spielerische Weise in den Alltag integriert und man repetiert sie ständig, fast automatisch. Tatsächlich weiss die Hirnforschung, dass repetieren beim Lernen sehr wichtig ist: Je öfter man repetiert, desto besser. Die Post-its sind also eine clevere Lernstrategie.
Hinzu kommt: Mir machen die Post-its Spass – und Motivation ist das A und O beim Lernen. Wer einen guten Grund hat zu lernen und motiviert ist, der lernt einfacher und schneller. Das ist wissenschaftlich belegt.
Meine Familie muss sich allerdings erst noch etwas an die vielen gelben Zettel in der Wohnung gewöhnen.
Vorwissen nutzen
Auch meine nächste Sprachlektion hat mit Büchern noch nichts zu tun. Wir spazieren durchs Dorf und versuchen, alle Schilder oder Schriftzüge, die wir auf Sursilvan finden, zu übersetzen. «Keine Fremdsprache ist wirklich fremd», meint Matthew. «Du kannst die eigene Muttersprache oder andere Fremdsprachen nutzen, um die neuen Wörter verstehen zu lernen. Gerade Französisch, Italienisch und vor allem auch Englisch werden uns helfen, Sursilvan zu übersetzen.»
Ich staune, auf welche Weise die beiden Sprachwissenschaftler die neue Sprache angehen. Und weil sie das Eintauchen in die lokale Kultur so wichtig finden, gehen wir am Abend an einem ganz speziellen Ort essen: im Maiensäss von Jules Cathomas.
Eintauchen in die Kultur
Wir geniessen den Abend, nutzen auch hier jede Gelegenheit, um zu lernen. Matthew und Michael übersetzen jedes Büchlein, jede Zeitung, jedes Bild, das sie im Maiensäss finden und versuchen, die Zutaten für die Bulzani herauszufinden, die Jules serviert. Natürlich auf Sursilvan.
«Wenn man so viel Hirnarbeit leistet, braucht man gutes Essen», sagt Michael. «Ausserdem konnten wir einige Wörter, die wir heute Morgen mit den Post-its gelernt haben, aktiv anwenden.» Matthew fügt hinzu: «Lernen ist fast wie ein Workout. Geistige und körperliche Fitness gehen Hand in Hand.»
Dass das Hirn gutes Essen, viel Wasser und Erholung braucht, ist tatsächlich auch wissenschaftlich belegt. Eine Studie von 2014 zeigt : Mehrfach ungesättigte Fettsäuren, auch bekannt als Omega 3 und Omega 6, sind besonders gut für unser Gehirn. Enthalten sind sie in verschiedenen Nüssen, aber auch in Fisch und Ölen.
Allerdings könnten die Jungs in Sachen Pausen noch etwas dazulernen: Die machen sie nur, wenn sie schlafen. Dabei zeigt eine Studie aus dem Jahr 2021, welche Auswirkungen viel oder wenig Schlaf auf die Performance von Studierenden hat. Das Resultat der Forschenden aus Uruguay: Je weniger Schlaf, desto weniger Punkte in der Prüfung.
Die Forschenden kommen sogar zum Schluss, dass es empfehlenswert ist, Prüfungszeiten auf den Nachmittag zu verlegen, damit Studierende genug Schlaf erhalten. Mittlerweile weiss man, dass tagsüber angeeignetes Wissen, nachts im Hippocampus reaktiviert wird und damit ins Langzeitgedächtnis übertragen wird.
Mein Fazit über den gemeinsamen Tag: Obwohl wir erst vor ein paar Stunden mit Sursilvan begonnen noch kein Lehrbuch aufgeschlagen haben, habe ich schon sehr viel gelernt. Grandius!
Der Lern-Plan beginnt vor dem Frühstück
Nach unserem gemeinsamen Kick-off in Brigels lernen wir von nun an getrennt.
Ich zurück in Zürich, Michael und Matthew zu Hause in Spanien. An meinem ersten Lern-Tag erhalte ich per E-Mail meinen Lernplan: Sprachlektionen mit den beiden via Skype (jeden Tag eine Stunde), ein bis zwei Lektionen im rätoromanischen Lehrbuch «en lingia directa» (im Selbststudium), Dialoge der Audio-Lektionen (hören und verstehen versuchen) und – noch vor dem Frühstück – ein ganz bestimmtes Verb konjugieren.
Hinzu kommt: So oft wie möglich Radio Rumantsch und Podcast hören, Telesguard schauen, auf YouTube rumstöbern, rätoromanische Zeitung lesen. Ich soll Rätoromanisch spielerisch in meinen Alltag einbauen. Mich im Auto, beim Zugfahren und beim Surfen im Internet an den Klang der Sprache gewöhnen und versuchen, so viel wie möglich zu verstehen.
Weiterführende Informationen
Ich hatte den Aufwand eindeutig unterschätzt, versuche aber, den Lernplan so gut es geht umzusetzen – und merke: Ich muss erst wieder lernen, wie man lernt.
Eine happige erste Lernwoche
Sechs intensive Lerntage liegen hinter mir. Ich bin in Zürich und habe das Lernen in meinen Alltag integriert. Aber: Mir fehlen Brigels, meine Freunde und Bekannte für die kleinen Konversationen auf der Strasse, in den Geschäften. Trotzdem: Ob ich mich nach diesen ersten Tagen überhaupt trauen würde, auf Sursilvan ein Brot zu bestellen?
Matthew und Michael haben mir zwar eingetrichtert, Hemmungen abzulegen und regelmässig zu üben und fordern mich zünftig. Tatsächlich hatte ich mir das Ganze etwas einfacher vorgestellt. Das vorgegebene Programm schaffe ich nicht jeden Tag. Schliesslich arbeite ich und habe eine Familie. Aber es macht mir trotzdem grossen Spass!
Lerntief in der zweiten Woche
Sportferien, zurück in Brigels: Unsere Wohnung ist noch immer mit gelben Post-its zugeklebt, die Lernbücher stapeln sich auf dem Tisch. Ich schlittere in mein erstes Lerntief. Plötzlich habe ich das Gefühl, ich könne noch rein gar nichts und die Zeit läuft mir davon.
Ich büffle Verben, löse Aufgaben im Lernheft und versuche, die Audio-Dateien zu verstehen, ohne auf den Text zu schauen. Schwierig, sehr schwierig. Meine Motivations-Krise bleibt meinen Coaches natürlich nicht verborgen. Aber selbst da haben sie ein Rezept: Sie repetieren mit mir all das, was ich in der ersten Woche schon gelernt habe und halten mir so vor Augen, dass ich eigentlich sehr weit bin. Das tut meinem angeknacksten Selbstbewusstsein gut.
Nur noch vier Tage bis zur «Prüfung»
Wenige Tage vor der «Prüfung» traue ich mich, in der Metzgerei auf Sursilvan zu bestellen oder mit flüchtigen Bekannten aus dem Dorf ein paar Sätze in ihrer Sprache zu wechseln. Michael und Matthew spielen im Unterricht Sparring-Partner für Small-Talk-Gespräche und sind stolz auf mich. Ich zweifle zwar immer wieder an mir, bemerke aber auch grössere Fortschritte. Tatsächlich erwache ich manchmal in der Nacht und überlege, wie man dies oder das auf Sursilvan sagt. Unglaublich, wie sich dieses Projekt auf mein Hirn schlägt.
Übrigens: Meine Coaches sprechen unterdessen fliessend Sursilvan. Dabei haben wir drei zur selben Zeit begonnen. Natürlich haben sie mehr Zeit investiert als ich – trotzdem bin ich schwer beeindruckt.
Der Tag X
Nach 19 Unterrichts- und Lerntagen muss ich mich der Kamera stellen. Ich soll ein lockeres Gespräch mit Rosina Schmed führen, der Wirtin im Hotel Alpina in Brigels. Ich bin ziemlich nervös! Aber dank wohlwollender Haltung Rosinas komm ich ganz gut zurecht bei unserer «paterlada», unserem Schwätzchen.
Zum Schluss schalten wir via Skype noch unsere beiden Sprach-Genies dazu. Sie sprechen und diskutieren mit Rosina auf Sursilvan, als hätten sie nie etwas anderes getan. Auch Rosina ist schwer beeindruckt: «Senza plaids – ohne Worte!»
E ussa? Und jetzt?
Mein Hirn und ich brauchen jetzt erst mal eine Pause. Das waren drei sehr intensive Wochen mit viel Hirnarbeit. Anstrengend! Hat aber auch richtig gut getan! Ich möchte unbedingt dranbleiben am Sursilvan. Ich denke, ich werde schnell Fortschritte machen.
Das Erfolgsrezept heisst: Sprechen, sprechen, sprechen. Ich lebe zwar in Zürich, mein Ferienzuhause in Brigels wird mir aber helfen, in Übung zu bleiben. Wäre ja gelacht, wenn ich nach diesem geleisteten Aufwand mein ganzes Wissen einfach versickern lassen würde. Na, quei fuss donn! – Das wäre schade!