Pfeifsprachen sind so etwas wie die stromlos-analogen Vorfahren der Handys. Sie machen Kommunikation über weite Entfernungen möglich. Sie brauchen keine Deckung und stürzen nie ab.
David Diaz Reyes ist stolz, Teil einer solchen Pfeifkultur zu sein. Der Lehrer und Musikethnologe pfeift fliessend Silbo. Das ist die Pfeifsprache der Kanarischen Inseln, die er seit Jahren dokumentiert und lehrt.
Fast verstummt und wiederbelebt
Lange waren es nur noch die Alten, die pfiffen. Seit einigen Jahren tun es aber auch die Kinder wieder. Denn der Silbo ist unterdessen ein beliebtes Schulfach geworden.
Die kanarische Pfeifsprache steht heute auf der UNESCO-Liste des immateriellen Weltkulturerbes. Zusammen mit der Sprache von Kuşköy – übersetzt «Vogeldorf» – einem kleinen Bergdorf im Nordosten der Türkei.
Pfeifsprachen überwinden Berge und Täler
Pfeifsprachen seien alle unter ähnlichen Bedingungen entstanden: in Kulturen, wo Menschen in gebirgigen und unübersichtlichen Landschaften arbeiten. Hier verständigen sich Bauern, Teepflückerinnen, Hirten oder Haselnusssammlerinnen über viele Höhenmeter und grosse Distanzen. Pfiffe sind bis zu acht Kilometer entfernt zu hören und damit zehnmal weiter als Schreie.
Silben werden in Pfiffe verwandelt
Pfeifsprachen basieren auf gesprochener Sprache. In tonalen Sprachen, wo eine Silbe je nach Tonhöhe ihre Bedeutung ändert, imitiert die Pfeifsprache primär die Sprachmelodie. Die Pfeifsprache der Hmong in den waldigen Berggebieten Südostasiens ist eine der schönsten. Sie wird zur Kommunikation über Distanzen eingesetzt, aber auch beim Flirten.
Pfeifsprachen, die auf atonalen Sprachen wie dem Spanischen oder Griechischen basieren, werden sozusagen gleichzeitig gesprochen und gepfiffen. Der Pfeifer bewegt den Kehlkopf, manchmal auch die Zunge, wie beim Sprechen – aber ohne Aktivität der Stimmbänder.
Auf der Grenze zwischen Sprache und Musik
Pfeifsprachen bewegen sich zwischen Sprache und Musik. Man muss sie üben wie ein Musikinstrument. Die individuellen Niveau-Unterschiede seien daher beim Pfeifen viel grösser als beim Sprechen, weiss Julien Meyer.
Kommt hinzu: Pfeifsprachen sind immer reduzierte Sprachen. Das Gehirn muss ständig ergänzen, was in der Übertragung von Worten in Pfiffe verloren geht. Geübte Pfeifer verstehen dennoch bis zu 80 Prozent des Gepfiffenen.
Das gelingt deshalb erstaunlich gut, weil gepfiffene Sprache vermutlich in beiden Hirnhälften verarbeitet wird: im linksseitigen Sprachzentrum und in den rechtsseitig gelegenen Musikarealen.
Jahrtausende alt und bedroht
Heute können Pfeifsprachen der Moderne kaum noch standhalten: Handys, Mobilität, Landflucht und das Verschwinden traditioneller Lebensweisen lassen sie zunehmende verstummen.
Das gilt auch für die Vogelsprache von Kuşköy. Der griechische Schriftsteller Xenophon hat deren Vorläufer in der nordöstlichen Türkei schon vor zweieinhalbtausend Jahren bestaunt. In dieser Gegend, schrieb er, verstehen sich die Menschen, selbst wenn Täler zwischen ihnen liegen.