Von einem Tag auf den andern war für Tanja Müller* alles anders. Es sei gewesen, als wäre ihr der Stecker gezogen worden. Die Mutter von zwei älteren Kindern erlitt vor einem Jahr einen Zusammenbruch, weil ihr alles zu viel wurde mit Familie und Beruf. Diagnose: schwere Depression. «Ich war sehr erschöpft und traurig. Ich ertrug nichts mehr – weder die Kinder noch den Hund oder den Ehemann», sagt sie heute.
Lange war sie Vollzeit-Mutter: Sie sei zu Hause immer die Hauptverantwortliche gewesen, der emotionale Dreh- und Angelpunkt. Als die Kinder älter wurden, habe sie wieder begonnen, mehr zu arbeiten. Doch: «Den Job zu Hause habe ich einfach wie vorher weitergemacht.»
Vorher hatte ich immer alles im Griff – dann auf einmal gar nichts mehr.
Alles lastete auf ihren Schultern. Sie wollte es überall gut machen – zu Hause und im Job. Bis es ihr zu viel wurde. Bis auch der Körper zu streiken begann. Müller schlief kaum noch, hatte Panikattacken und schaffte es nicht mehr aus dem Haus. «Vorher hatte ich immer alles im Griff – dann auf einmal gar nichts mehr.»
Eltern am Limit – nach wie vor ein Tabu
Tanja Müller ist eine der wenigen, die gegenüber dem SRF Gesundheitsmagazin «Puls» offen über ihren Zusammenbruch reden. Doch auch sie möchte nicht mit ihrem echten Namen hinstehen. Das Thema sei für sie mit zu viel Scham behaftet. Das geht vielen so, wie auch diese SRF-Recherchen zeigten. Das Leiden im Rahmen des Elternseins ist nach wie vor ein Tabu, sagt denn auch Psychotherapeutin Linda Rasumowsky.
Die Psychotherapeutin hat die Plattform «Mental Well Mom» gegründet, damit es für Eltern einfacher werde, sich um ihre psychische Gesundheit zu kümmern. Das sei dringend nötig, denn Familienarbeit werde von der Gesellschaft nach wie vor unterschätzt und die Belastung nicht ganz ernst genommen. Die Vorstellung der perfekten Mutter, die alles unter einen Hut bringt, sei nach wie vor weit verbreitet. Dass es auch mal streng und schwierig ist, darf man kaum sagen.
Dass Elternsein Energie und Nerven kosten kann, kennen viele Eltern. Und immer mehr suchen sich Rat und Unterstützung. Beim Elternnotruf hat sich in den letzten 40 Jahren die Anzahl Beratungen verzehnfacht – auch weil sich immer mehr trauen, Hilfe zu holen, heisst es bei der Fachstelle. Rund 4000 Anrufe pro Jahr nehmen die 15 Beraterinnen und Berater des Elternnotrufs aus der ganzen Deutschschweiz entgegen. Rund um die Uhr und kostenlos.
Die Pandemie als Brandbeschleuniger
«Manchmal haben wir Eltern am Draht, die zunächst einfach nur weinen», sagt Yvonne Müller, Co-Leiterin des Elternnotrufs. Oft seien es Mütter von kleinen Kindern, die viel schreien und wenig schlafen. Die Pandemie habe dabei wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. «Es gab keine neuen Probleme. Aber Themen, die vorher schon schwierig waren, sind noch schwieriger geworden», sagt Müller.
Meist würden Eltern mit Alltagsfragen anrufen, denen man schnell helfen könne. Aber es gebe auch Eltern, die komplett am Anschlag seien. Die Beraterinnen und Berater hören in solchen Situationen vor allem zu und versuchen, die Situation zu beruhigen.
«Es ist extrem wichtig, dass sich Eltern trauen, über Schwierigkeiten zu sprechen, statt einfach alles in sich hineinzufressen, bis alles explodiert», sagt Müller. Alle Eltern würden mal an ihre Grenzen kommen. «Je mehr offen darüber sprechen, desto einfacher wird es für andere, das Tabu auch zu brechen.»
Arbeitsbelastung nimmt zu
Ein häufiger Grund für die Überlastung ist gemäss Fachpersonen der Spagat zwischen Familie und Beruf. Die Zahlen zeigen es klar: Die Arbeitsbelastung von Familien hat zugenommen – vor allem bei den Müttern. Während vor 30 Jahren noch rund 60 Prozent der Mütter erwerbstätig waren, sind es heute über 80 Prozent. Die Erwerbsquote der Väter wiederum liegt weiterhin bei hohen 96 Prozent.
Mütter sind nicht vulnerabler, sie sind schlicht und einfach stärker belastet.
Gleichzeitig hat sich die Haus- und Familienarbeit nicht reduziert – im Gegenteil. Männer leisten zu Hause immer mehr und kommen heute auf über 30 Stunden Haus- und Familienarbeit pro Woche. Frauen leisten aber nach wie vor wöchentlich über 50 Stunden. Bei einer Mutter mit Kindern unter sieben Jahren beträgt die Arbeitsbelastung gar 71 Stunden pro Woche. Also zehn Stunden jeden Tag, auch am Wochenende.
Hoher Organisationsbedarf – und mehr Konfliktpotenzial
Aufgaben in der Kinderbetreuung und im Haushalt übernehmen also nach wie vor hauptsächlich Frauen – auch wenn sie einer Erwerbsarbeit nachgehen. Für Psychiaterin Barbara Hochstrasser eine Erklärung, warum vor allem Mütter in ihre Praxis kommen: «Mütter sind nicht vulnerabler, sie sind schlicht und einfach stärker belastet.»
Wenn beide Elternteile den Spagat zwischen Familie und Arbeit machen müssen, führe das auch zu einem grossen Organisationsbedarf. Und es werden mehr Absprachen nötig: Wer kocht heute? Wer holt die Kinder aus der Kita? Das wiederum könne neue Konflikte mit sich bringen. Barbara Hochstrasser kennt weitere Faktoren, die zu einem Zusammenbruch führen können: Verlust von Freiraum, fehlende soziale Unterstützung, finanzielle Verantwortung.
Perfektionismus und fehlende soziale Netze
Eine der Ersten, die sich wissenschaftlich mit dem Thema auseinandergesetzt hat, ist die belgische Psychologie-Professorin Moïra Mikolajczak. Sie hat den Begriff Eltern-Burnout stark mitgeprägt – und sie weiss aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, als Mutter ein Burnout zu erleiden. «Damals hatte ich noch keine Worte. Man sprach ja nicht darüber», so Mikolajczak. Erst Jahre später, als sie mit ihrer Forschung begonnen habe, habe sie gemerkt, dass sie genau das selber erlebt hatte.
Durch ihre Forschungen kam sie immer wieder zu überraschenden Erkenntnissen. Am Anfang nahmen sie und ihr Team an, dass die Anzahl Kinder eine grosse Rolle spielen würde oder dass Alleinerziehende ein grösseres Risiko hätten, ein Burnout zu erleiden. «Komplett falsch», sagt Mikolajczak. Die Hauptursachen, die ein Burnout begünstigen können, seien: wenn Eltern es immer sehr perfekt machen wollten, wenn das soziale Netzwerk sehr klein sei und wenn Eltern grosse Mühe hätten, ihren Kindern klare Grenzen zu setzen.
Seit über zehn Jahren begleiten Mikolajczak und ihr Team gut 2000 Eltern. Ihre Forschung hat gezeigt: Durchschnittlich sind rund fünf Prozent von einem Eltern-Burnout betroffen, acht Prozent gefährdet. Durch die Pandemie seien die Zahlen nochmals gestiegen. In den USA etwa seien rund zehn Prozent im Eltern-Burnout.
Gewalt und Vernachlässigung
Ein Eltern-Burnout habe zunächst vor allem psychische Auswirkungen, zeige sich aber auch körperlich. In einer Studie konnte das belgische Team zeigen, dass die Werte des Stresshormons Cortisol bei Eltern im Burnout extrem hoch sind. Mikolajczak sieht darin eine mögliche Erklärung, weshalb es im Kontext von Eltern-Burnout häufiger zu Gewalt und Vernachlässigung kommt. Das Stresshormon vermindere die Fähigkeit, sich in extremen Situationen zurückzuhalten, sich zusammenzunehmen.
Eltern in westlichen Ländern sind deutlich stärker betroffen von Eltern-Burnout. Das fanden Mikolajczak und ihr Team dank einer gross angelegten Studie heraus, für die sie Daten von 17'000 Eltern aus 42 Ländern rund um den Globus ausgewertet haben. «Das zeigt, dass der Individualismus eine grosse Rolle spielt. Eltern in westlichen Ländern sind eher auf sich alleine gestellt und nicht in ein ganzes Dorf eingebunden», so die Forscherin.
Im Vergleich zum Rest der Welt versuchten Eltern hierzulande mehr auf die Kinder einzugehen und erziehen sie so, dass die Kinder auch mitreden dürfen. «Das ist schwieriger und anstrengender, als wenn sich Kinder wie in anderen Ländern den Vorgaben der Eltern unterordnen.»
«Mehr Anerkennung verdient»
Mikolajczaks Tipp: Vernetzt euch! Teilt die Aufgaben mit anderen Eltern, Nachbarn, Grosseltern, etwa beim Schulweg oder beim Kochen. Wichtig sei auch, die eigenen Ansprüche herunterzufahren und weniger perfektionistisch zu sein.
Für Psychiaterin Barbara Hochstrasser ist die Selbstfürsorge wichtig. «Burnout-Prävention fängt bei einem selber an», so Hochstrasser. Herausfinden, was man selber brauche und dem auch Wichtigkeit einräumen. Wer völlig ausgebrannt sei, könne auch anderen nichts mehr geben. Das verhalte sich ähnlich wie mit der Atemmaske im Flugzeug: Auch diese muss man zuerst für sich aufsetzen, um für andere da zu sein. Danach geht es darum, zu schauen, was man für ein Netzwerk hat. Wo kriegt man Unterstützung her?
Das Elternsein brauche insgesamt mehr Anerkennung, sagt Barbara Hochstrasser. «Kinder grosszuziehen ist eine unserer wichtigsten Aufgaben, an sich die wichtigste Aufgabe, denn sie unterstützt die Entwicklung der zukünftigen Generation. Sie sollte entsprechend wertgeschätzt werden.»
Schliesslich könne jeder helfen, sagt Psychotherapeutin Linda Rasumowsky. Betroffene würden erstaunlich selten gefragt, wie es ihnen geht und was sie brauchen. Dabei sei es wichtig, darüber zu sprechen, um das Thema zu enttabuisieren. Es müsse normaler werden, dass man sich um seine eigene psychische Gesundheit kümmern dürfe – ob man Eltern ist oder nicht.
Knallharte Arbeit nach dem Zusammenbruch
Bei Tanja Müller folgte auf den Zusammenbruch ein zehnwöchiger Aufenthalt in einer Klinik. Sie habe lernen müssen, auf sich selber zu hören und damit umzugehen, wenn es wieder schwierig wird. Das sei knallharte Arbeit gewesen. Es sei hart gewesen, zum ersten Mal von der Familie getrennt zu sein, sagt Müller.
Heute gehe es ihr bedeutend besser. Aber so wie früher werde es nie mehr, so die Mutter. Es fühle sich immer noch an, als würde sie durch Wasser waten. Sie sei noch weit weg von dem, was sie früher geleistet habe. «Den Stecker kann man nicht einfach so wieder einstecken.»
* Name geändert