Im Sekundentakt swipen sich Menschen zur grossen Liebe: Weltweit haben im vergangenen Jahr 270 Millionen auf Dating-Apps nach Nähe und Zuneigung gesucht – so viele wie noch nie.
Dass diese Form des Flirtens Erfolg hat, zeigt eine Studie der Universität Genf. Paare, die sich über Dating-Apps gefunden haben, sind demnach genauso zufrieden mit ihrer Beziehung wie Menschen, die sich ohne die Hilfe ihres Smartphones verliebt haben.
Vom Swipe zur gemeinsamen Wohnung
«Bei uns hat es geklappt», sagt Tobias. Fast fünf Jahre ist es bei ihm schon her, dass ein Wisch nach rechts sein Leben verändert hat. Seine Mitbewohnerin meldete ihn damals auf Tinder an. «Ich habe nicht gedacht, dass es funktionieren würde», sagt der 34-Jährige mit den blonden Locken heute und grinst zu Clément, der an der Küchenzeile ihrer Lausanner Dachgeschosswohnung steht.
Tobias war gar nicht auf der Suche nach etwas Ernstem. Trotzdem zog Clément kurze Zeit später aus Frankreich zu ihm in die Schweiz.
Drei Milliarden Swipes an einem Tag
Die Corona-Pandemie hat den Trend zum Onlinedating zünftig beschleunigt. «Ich gehe davon aus, dass Dating-Apps zur häufigsten Art des Kennenlernens von Paaren in der Schweiz wurden», sagt Gina Potarca. «So war es in den letzten Jahren schon in den USA zu beobachten.» Die Soziologin forscht an der Universität Genf zu Beziehungen von Paaren, die sich über Dating-Apps gefunden haben.
Potarcas Studie zeigt: Noch vor wenigen Jahren lernten sich Paare in der Schweiz am häufigsten über den Freundeskreis kennen, gefolgt von der Arbeit oder dem Ausgang. Das ist jetzt anders.
Im Frühjahr 2020 blieb die Welt zu Hause. Somit waren die Möglichkeiten, jemanden kennenzulernen, eingeschränkt. Mit dem Sozialleben hat sich auch das Flirten ins Digitale verschoben. Am 29. März 2020 konnte Tinder nach eigenen Angaben einen Rekord verbuchen: So oft wie nie zuvor wischten Nutzende auf ihren Smartphones nach rechts – im Versuch, jemanden kennenzulernen.
Nichts als Sex via Smartphone?
Der Ruf von Dating-Apps hat sich über die Jahre deutlich verändert. Lange galt: Die schnelle, nicht die grosse Liebe sei hier zu finden. Es gehe in erster Linie um Sex via Smartphone. Heute finden viele Menschen auf diesem Weg eine ernsthafte Beziehung.
Tobias und Clément gehen offen damit um, dass sie sich über Tinder kennen: «Das ist doch ganz normal», meint Tobias. Clément fügt hinzu: «Wir haben viele Freunde, die sich auf Tinder kennengelernt haben. Sie haben sich hier in Lausanne getroffen und sind jetzt verheiratet oder haben Kinder.»
Langfristige Beziehung statt Liaison
Diesen Eindruck stützt die Studie der Universität Genf über heterosexuelle Beziehungen in der Schweiz. Über 100 Paare, die sich in den letzten zehn Jahren über Dating-Apps kennengelernt haben, wurden befragt.
Die Ergebnisse überraschten die Studienleiterin Gina Potarca: «Frühere alarmistische Szenarien gingen davon aus, dass App-Paare eher an einer kurzen Liaison interessiert sind. Im Gegensatz dazu deuten unsere Daten darauf hin, dass Paare, die sich über Dating-Apps kennengelernt haben, nicht vor einer langfristigen Bindung zurückschrecken.»
Sehnsucht nach Zukunft
Laut der Genfer Studie haben Paare, die sich über Dating-Apps gefunden haben, sogar stärkere Absichten zusammenzuziehen, als solche, die sich offline kennenlernen. Auch der Kinderwunsch ist grösser bei Frauen, die ihren Partner über eine App trafen.
Das sei ein Hinweis darauf, dass Alleinstehende, die bald Eltern werden wollen, Dating-Apps als Weg der Partnersuche bevorzugten, erklärt Potarca. Sie sieht auch einen Zusammenhang mit dem Arbeitsleben: «Gerade Frauen, die ihren Partner auf Dating-Apps suchen, sind so involviert in ihrer Berufskarriere, dass ihnen die Zeit fehlt, offline nach einem Partner zu suchen.»
Apps machen die Liebe vielfältiger
Ein weiterer Vorteil des App-Datings: Es ist leichter, aus der eigenen Filterblase auszubrechen. Auch Beziehungen über grössere Distanzen und mit unterschiedlichen Bildungsniveaus sind wahrscheinlich. «Dating-Apps scheinen eine stärkere soziale Durchmischung von Paaren zu fördern», sagt Potarca. Denn die Dating-App auf dem Smartphone kann überallhin mitgenommen werden.
So erging es auch dem Tinder-Paar aus Lausanne. Gematcht haben sie, als Clément für einen beruflichen Termin in die Schweiz reiste. «Wir kommen aus verschiedenen Welten», sagt Tobias. «Clément ist Franzose, war Grenzgänger. Ich bin als Thurgauer in der Westschweiz gelandet.»
Es waren die Bilder in der Natur, die Clément an Tobias' Tinderprofil sofort gefallen haben: Fotos beim Tauchen, auf einer Skitour. «Für mich war es nicht nur ein One-Night-Stand», sagt er. Das sei für ihn schnell klar gewesen. «Ich habe gehofft, dass es eine ernsthafte Beziehung wird.»
Sich selbst sein auf Dating-Apps
Sind es vor allem authentische Profile, die auf Dating-Apps Erfolg haben? Ja, bestätigt Soziologe Thorsten Peetz. Er hat an der Universität Bremen untersucht, was die Kommunikation beim Onlinedating besonders macht. Peetz meint: «Vielleicht kann man das authentische Selbst so überlegter und kontrollierter aus sich herauslassen.»
Auch, weil man sich auf einer Dating-App erst über Chatnachrichten kennenlernen kann, bevor es zum ersten Treffen kommt. «Manche Leute können sich vielleicht in Textform besser ausdrücken, als wenn sie einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen», sagt Peetz.
Videochats schaffen Intimität
Das erklärt auch, warum die Zeit der Pandemie Dating-Apps so populär machte. Tinder und Co. reagierten auf die Abstandsregeln mit einer neuen Funktion: dem Videochat. Bei einem virtuellen Date sollten sich die Nutzerinnen und Nutzer erleben können, ohne sich real zu treffen.
Möglicherweise steigern Verabredungen über den Bildschirm die Intimität. Die Qualität von Verbindungen, die über Dating-Apps zustande kamen, könnte sich während der Corona-Krise verbessert haben, glaubt Soziologin Potarca: «Weil die Menschen mehr Zeit damit verbringen, sich kennenzulernen und Intimität zu schaffen – auch über Videochats.»
Die Pandemie prägt das Verlieben
Dass Nähe auch virtuell möglich ist, haben die vergangenen Monate gezeigt. Die Sehnsucht nach Beziehungen war gross, viele Menschen fühlten sich einsam. Das war nach Angaben von Tinder für 60 Prozent der Nutzenden der Grund, warum sie im Jahr 2020 die Dating-App nutzten.
Auch nach der Corona-Pandemie werden Apps zunehmend prägen, auf welchem Weg sich Menschen verlieben: Die Hälfte der Tinder-Nutzenden ist heute 25-jährig oder jünger. Es ist die Generation Z – die erste Generation, die mit einem Smartphone aufgewachsen ist. Für sie gehören Sprachnachrichten und Videotelefonie zur Kommunikation dazu.