«Mach dich darauf gefasst, dass das eine harte Zeit wird und sieh zu, dass du von deiner Familie und deinen Freunden ordentlich unterstützt wirst. Denn dir wird ein harter Wind um die Ohren blasen». Chirurg Karl-Henrik Grinnemo vom renommierten Karolinska-Institut in Stockholm weiss, wovon er spricht. Gemeinsam mit drei Kollegen hat er in Schweden einen der grössten Forschungsskandale der jüngsten Zeit aufgedeckt.
Qual für Patienten
Es ging um die Transplantation von künstlichen Luftröhren, die der italienische Chirurg Paolo Macchiarini entwickelt hatte. Diese hat er mit körpereigenen Stammzellen der Patienten behandelt und ihnen eingesetzt.
Die Medien feierten ihn dafür als Lebensretter. Doch es stellte sich heraus, dass Macchiarini diese Behandlungsmethode nie getestet hatte, beispielsweise mit Tierversuchen. Zudem hatte er den Erfolg seiner Methode in wissenschaftlichen Veröffentlichungen geschönt.
Karl-Henrik Grinnemo sah jedoch mit eigenen Augen, wie schlecht es den operierten Patienten ging: «Es war eine Tortur für sie. Wir wollten diese qualvollen Operationen um jeden Preis stoppen».
Keine Reaktion trotz Warnung
Grinnemo und drei seiner Kollegen warnten die Leitung des Karolinska-Institut in Stockholm. Doch anstatt Macchiarini zu stoppen, wurden die vier Whistleblower von Kollegen und Chefs gemobbt.
Auch als ein externer Gutachter nachwies, dass Macchiarini Forschungsdaten gefälscht hatte, durfte er weitermachen.
Als Lügner abgestempelt
Seine Fürsprecher am Karolinska-Institut setzten sich für ihn ein – vermutlich, weil sie sich nicht eingestehen wollten, dass sie mit der Anstellung Macchiarinis einen Fehler gemacht hatten.
Plötzlich wurden wir selber wegen Forschungspfusch und allem möglichen angezeigt.
Grinnemo und seine Kollegen erlebten das als Faustschlag ins Gesicht: «Dadurch wurden wir als Lügner abgestempelt. Plötzlich wurden wir selber wegen Forschungspfusch und allem möglichen angezeigt. Das war eine furchtbare Zeit.»
Gefälschtes Experiment mit Mikroplastik
Auch die beiden Meeresbiologen Josefin Sundin und Fredrik Jutfelt spürten harten Gegenwind, als sie zu Whistleblowern wurden. Sie erlebten 2015, wie ihre Kollegin Oona Lönnstedt auf einer Forschungsstation auf der schwedischen Insel Gotland ein Experiment fälschte.
Ein Jahr später veröffentlichte Lönnstedt einen Artikel über ihre gross angelegte Studie im angesehenen Fachjournal «Science». Angeblich zeigte ihr Experiment, dass Fischlarven ihre Feinde nicht mehr erkannten, wenn sie Mikroplastik ausgesetzt sind, und dass sie die Kunststoffpartikel sogar lieber frassen, als echtes Futter.
Als Josefin Sundin den «Science»-Artikel las, konnte sie es nicht fassen: «Unsere Kollegin konnte dieses Experiment unmöglich so gemacht haben. Dafür war sie nicht mal lange genug auf der Forschungsstation.»
«Wir waren schockiert!»
Sundin und ihr Kollege Fredrik Jutfelt wandten sich an die Uppsala Universität, an der Oona Lönnstedt angestellt war. Doch obwohl Sundin und Jutfelt Beweise hatten, die gegen ihre Kollegin sprachen, unternahm die Uppsala Universität nichts, um den Fall aufzuklären. «Wir waren schockiert», so Jutfelt.
Erst als die beiden Whistleblower darauf drängten, den Fall von der nationalen Zentralen Ethikprüfungskommission untersuchen zu lassen, kam die Wahrheit ans Tageslicht. Das Fachjournal «Science» zog den Artikel zurück.
Wir haben beide schlecht geschlafen in dieser Zeit, hatten sogar richtige Albträume.
Bis es soweit war, mussten Sundin und Jutfelt 10 Monate lang Beweise sammeln und Dokumente liefern: «Wir haben beide schlecht geschlafen in dieser Zeit, hatten sogar richtige Albträume. Ausserdem sind wir kaum noch zu unserer eigenen Forschung gekommen», erinnern sich die beiden.
Nichts zu gewinnen, viel zu verlieren
Belohnt werden Whistleblower nicht für ihren Mut, sich in den Wind zu stellen. Und die Arbeitszeit, die ihnen verloren geht, ersetzt ihnen niemand.
Wer als Forscher am Beginn seiner Karriere steht, setzt also besonders viel aufs Spiel. «Wir hatten nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren. Das ist ganz klar ein Risiko», so Jutfelt.
Rauswurf am Karolinska-Institut
Am Ende bekamen auch Karl-Henrik Grinnemo und seine drei Mitstreiter Recht. Wenn auch nur auf Umwegen: Erst als das schwedische Fernsehen über Macchiarinis Luftröhren-Operationen berichtete, reagierte die Leitung des Karolinska-Instituts.
Mehrere Chefs mussten ihren Posten räumen, auch Macchiarini und sein Team wurden entlassen. In Schweden wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung eingeleitet, aus Mangel an Beweisen jedoch fallen gelassen. Von den drei in Schweden operierten Patienten ist heute keiner mehr am Leben.