New York, 1964: In einem Wohnviertel wird die 28-jährige Kitty Genovese erst überfallen und dann mit unzähligen Messerstichen ermordet. Laut Medienberichten sollen zahlreiche Zeugen die Tat beobachtet haben, – doch niemand eilte der jungen Frau zu Hilfe. Der Fall erregte wochenlang Aufsehen. Denn niemand verstand, warum keine der umstehenden Passantinnen eingriff.
Jahre später fanden die amerikanischen Sozialpsychologen John M. Darley und Bibb Latané eine Erklärung dafür. In ihrem Forschungsprojekt, das sich Prozessen der Zivilcourage widmete, stellten sie die Frage: Warum greifen Menschen bei Unfällen oder Verbrechen im öffentlichen Raum nicht ein? In welchen Fällen werden sie zu blossen Zuschauenden, zu «Bystandern»?
Hilfsbereitschaft verliert sich in Anonymität
Aus den Antworten, die sie über Jahre sammelten, entwickelten die Forschenden ein Modell. Das Phänomen, mit dem sie den Effekt des Nicht-Handelns der Augenzeugen beschreiben, bezeichnen sie als «Genovese-Syndrom» oder «Bystander-Effekt»: Laut Darley und Latané muss eine Person fünf Entscheidungsstufen durchlaufen, bevor sie einem Opfer tatsächlich hilft. Das Dilemma: Mit jeder Stufe wird die Bereitschaft zur Hilfeleistung immer unwahrscheinlicher – und das liegt auch an den Mitmenschen.
Falls also nicht alle Bedingungen des Fünf-Stufen-Prozesses erfüllt sind, kommt es laut Darley und Latané zu keinerlei Hilfe.
Wer an der Bushaltestelle steht und einen Opa beim Stürzen beobachtet, sollte sich also darüber im Klaren sein: Je mehr Menschen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass überhaupt jemand im Notfall einspringt. Die Menschenmasse gaukelt Sicherheit vor. Doch wie kann man diesem Phänomen entgegenwirken?
Den Bystander-Effekt durchbrechen
Expertinnen und Experten zufolge, soll eine wirksame Gegenmassnahme darin bestehen, sich so zu verhalten, als wären Sie die erste oder einzige Zeugin des Problems. Sprich: Zuerst die Stimme erheben, ganz gleich, was es ist.
Falls die Situation nicht allein bewältigt werden kann: Augenkontakt zu einem anderen Zuschauer beziehungsweise Passant herstellen. Dann heisst es direkt ansprechen. Indem ein Mensch herausgepickt und personalisiert wird, löst ihn das aus der Gruppe heraus. Dann kann zusammen eingegriffen werden.