«Bauten sind immer ein Abbild der Gesellschaft. Auch in der Schweiz», sagt Heinz Ehrbar, Bauingenieur und Dozent an der ETH Zürich.
In Frankfurt am Main leitet der Schweizer das Kompetenzzentrum für Grossprojekte 4.0 der Deutschen Bahn. Er weiss um die Mentalitätsunterschiede: «In der Schweiz sind wir eher nutzenorientiert und von Schutzbedürfnissen getrieben.»
So verwundere es nicht, dass wir Schweizer den längsten Tunnel oder die höchsten Staumauern der Welt gebaut haben. Bei der Infrastruktur spielt die Schweiz in der ersten Liga mit. Aber wir bauen nicht um des Glanzes Willen.
Gigantismus funktioniert nicht überall
Dass Schweizer durchaus Flair für bauliche Blickfänge haben, beweisen Stararchitekten wie Herzog & de Meuron längst. Ihr «Vogelnest», das chinesische Nationalstadion in Peking, lässt grüssen. Nur: Gigantismus funktioniert, wo wenige Menschen mit viel Geld viel Macht ausüben können.
«Das geht in der Schweiz nicht», sagt Ingenieur Heinz Ehrbar. Nicht nur ist die Schweiz kleinräumig. «Wir leben in einem direktdemokratischen System. Es müssen via Einsprachen und Abstimmungen Mehrheiten geschaffen werden. Das schränkt den Handlungsspielraum für einen Investor ein.»
Und das prägt das Landschaftsbild. Heinz Ehrbar: «Im Dorf, wo ich aufwuchs, gab es lange Zeit ein Flachdachverbot. Man wollte beim Spaziergang in den Hügeln nicht auf hässliche, flache Dächer schauen müssen.»
Nutzenorientiertes Bauen
Weshalb in der Schweiz doch hie und da ein grosses Werk entsteht, wie vor 20 Jahren das Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL), erklärt der damalige Projektleiter Thomas Held: «Die Luzernerinnen und Luzerner realisierten, dass Luzern touristisch und kulturell an Bedeutung verlieren würde. Das Musikfestival wäre wahrscheinlich weggezogen. Es war eine sehr rationale Entscheidung.» Eben nutzenorientiert. Bis zu einem endgültigen Ja hatte es allerdings ganze vier Volksabstimmungen gebraucht.
Wenn dann gebaut wird, sagt Thomas Held, zeige sich in der Schweiz ein perfektionistisches Element: «Man hat die Haltung: Wenn schon etwas Grosses, dann macht man’s richtig.» Das sei beim Kultur- und Kongresszentrum so gewesen.
Antiurbane Mentalität
Heute, meint er, wäre ein solcher Bau kaum mehr realisierbar. Zu gross die Einschränkungen. Zu vielem müsse man Rechnung tragen, vom Umwelt- über den Denkmalschutz bis hin zur Energieeffizienz. «Hinzu kommt eine Art antiurbaner Gemütszustand.»
Sichtbar wird dies an der Problematik des verdichteten Bauens. Thomas Held stellt nicht ohne Bedauern fest: «Verglichen mit anderen Ländern hat die Schweiz enorm tiefe Ausnutzungsziffern».
Das heisst, wenn eine Grundfläche bebaut wird, darf man sie – in der Regel – nicht übermässig ausnutzen, also beispielsweise nicht so hoch bauen. Weshalb bei uns Hochhäuser denn auch nicht in unmittelbarer Nähe voneinander wie Pilze aus dem Boden schiessen.
Diskussionen über Schattenwürfe
Wo man in der Schweiz in die Höhe bauen will, wird heftig diskutiert. Beim Zürcher Prime Tower etwa, drehten sich die Diskussionen um den Schattenwurf des Gebäudes.
Als in Basel der Roche-Turm gebaut wurde, beschwerten sich die Anwohner. Der Turm sei die bisher «gewalttätigste und respektloseste Architektur» der Schweiz, sagte der frühere Basler Stadtbaumeister Carl Fingerhuth in der NZZ.
In Zürich, wo man seit 20 Jahren den Bau eines neuen Stadions plant, steht das Vorhaben erneut zur Diskussion: Die Anwohner regen sich über zwei Hochhäuser auf, die zum Stadion dazu gebaut werden sollen.
Kein Wunsch nach Grösse
«Die Schweiz hat keine royale Vergangenheit, keinen Wunsch nach Grösse. Im Gegenteil lebt die Idee der Eidgenossenschaft seit jeher davon, dass jeder teilhat und keiner den anderen überragt», interpretiert Ethnologin Marie Glaser vom Wohnforum der ETH. Das spiegle sich auch im Bau.
Typisch für die Schweiz ist vielmehr, «dass das Land wie ein Teppich mit vielen Terrassen-, Reihen- und Einfamilienhäusern überzogen ist», meint sie. Dahinter steckt nicht nur eine Vorliebe für Eigenbesitz und Landleben, sondern wiederum die Nützlichkeit.
Kontrolliert wohnen
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bauten Fabrikherren Häuser nach bürgerlichem Vorbild für ihre Mitarbeiter. Allerdings nicht aus reiner Nächstenliebe: «Man versuchte die Arbeiter in gesunde und kontrollierbare Verhältnisse anzusiedeln», so Marie Glaser.
Via Hausverwalter konnte man sich der Sittlichkeit der Bewohner versichern. Letztere – so die Idee – würden lieber im gemütlichen Häuschen bleiben, statt sich in der Wirtsstube zu betrinken. Die Folge: höhere Produktivität am Arbeitsplatz.
Nützlich und sicher
Fleissig und unscheinbar, dieses Credo scheinen wir in der Schweiz auch in der Architektur bis heute verinnerlicht zu haben. Nützlich und sicher soll es sein. Wir brillieren bei Infrastrukturwerken wie dem Tunnelbau.
Wird viel Geld ausgegeben, wie derzeit die gut zwei Milliarden Franken für den Ausbau des Berner Bahnhofs, so sind wir bescheiden und graben in die Tiefe.
Ganz nach dem Motto: Wir können’s und haben’s, aber zeigen es nicht.