Südamerika vor 500 Jahren. Europäische Invasoren entdecken den Kontinent. Die vielfältige Flora und Fauna überwältigt – nicht nur visuell. Irgendwo im dichten Regenwald befindet sich ein Tier, das so fein und wunderschön singt, dass für die Europäer klar ist: Dieses Tier hat die Musik erfunden, denn es kennt die Tonleiter.
Der musikalische Enthusiasmus hielt nicht lange an. Als die Europäer das mysteriöse Tier später zu Gesicht bekamen, war sein Ruf sogleich wieder weg. Das hängende, langsame Tier wurde vom wundervoll singenden Wesen zum Faultier ernannt – und fortan auch verurteilt, denn die Faulheit gehört zu den sieben christlichen Todsünden.
Sparsamkeit auf höchstem Niveau
Faul sind Faultiere jedoch keineswegs, viel eher ausserordentlich energiebewusst. Denn die schwer verdauliche Blätterkost, die sich die Tiere täglich ins Maul schieben, hat sie im Verlauf der Evolution aufs Energiesparen spezialisiert. Anstrengung reduzieren sie auf ein Minimum: wenig Bewegung, viel Schlaf – bis zu 20 Stunden am Tag – und lockeres Rumhängen in den Baumwipfeln, das sie dank ihrer hakenförmigen Krallen ohne Einsatz von Muskelkraft zustande bringen.
Sechs verschiedene Arten von Faultieren gibt es. 30 bis 40 Meter über dem Boden hängen sie in der Horizontale, mit dem Rücken nach unten. Deswegen tragen sie schwerkraftbedingt den Mittelscheitel nicht auf dem Kopf, sondern am Bauch.
Bei der Hygiene setzen Faultiere ausschliesslich auf die Regendusche und der Gang zur Toilette läuft ebenfalls sparsam ab. Nur alle sieben bis zehn Tage steigt das Tier bedächtig vom Baum, um sich am Boden zu erleichtern. Bis zu einem Drittel seines Körpergewichts lässt es dort zurück, bevor es sich ebenso langsam wieder auf den Weg in die Bäume macht.
In Legenden und Erzählungen der indigenen Völker Südamerikas ist das Tier auch keineswegs ein Faules. Vielmehr stellt es als Gestalt den Übergang zwischen Natur und Kultur dar. Eltern in traditionellen Gesellschaften preisen es ihren Kindern zudem als Vorbild für Kontinenz, Selbstdisziplin und Genügsamkeit.
In steter Begleitung
Faultiere sind niemals alleine. In ihrem dichten Fell ist eine ganze Wohngemeinschaft unterschiedlicher Tiere und Pflanzen zu Hause. Mit einigen Grünalgen-, Motten- und Raupenarten pflegen sie eine exklusive symbiotische Beziehung. So ist jedes Faultier auch ein äusserst lebendiger Planet.