Wie gross der Schwund der Biodiversität bei Süsswassertieren ist, enthüllt erstmals eine internationale Studie unter Leitung der Weltnaturschutzunion (IUCN) im Fachblatt «Nature». Die neue Erhebung umfasst den Gefährdungsstatus von mehr als 23'000 Arten, darunter Fische, Krebse und auch Libellen, deren Larven im Wasser leben. Demnach sind rund 24 Prozent aller Süsswassertiere stark vom Aussterben bedroht.
Verantwortlich dafür sind vor allem Umweltverschmutzung, Staudämme, Landnutzungsänderung, Krankheitserreger oder auch invasive Arten. Der Schweizer Biodiversitätsexperte Florian Altermatt, der selbst nicht an der Studie beteiligt war, ordnet ein.
SRF Wissen: Herr Altermatt, hat Sie das Resultat der neuen Studie überrascht?
Florian Altermatt: Nein, es war leider zu erwarten. Doch erstmals ist die Situation jetzt global untersucht worden. In der Schweiz ist es zum Teil noch dramatischer. Bei den Zehnfusskrebsen sind alle vier Arten, die bei uns natürlicherweise vorkommen, vom Aussterben bedroht oder gefährdet. Bei den Fischen sind es sogar über 60 Prozent der Arten.
Welche sind es?
Bei uns sind beispielsweise viele Langstreckenwanderfische, wie der Stör, das Flussneunauge oder der Lachs schon ausgestorben. Das sind alles Arten, die zwischen den Laichgebieten im Süsswasser und dem Meer wandern. Ebenso ist der Aal vom Aussterben bedroht, eine Art die den umgekehrten Weg geht und sich in der Sargassosee im Atlantik fortpflanzt. Besonders gefährdet oder teilweise schon ausgestorben sind hierzulande weiter Dutzende von Felchenarten, die standortgebunden sind und meist nur je in einem See der Schweiz vorkommen.
Im Sommer 2023 wurde der Rhone-Streber, der im Jura als Roi du Doubs bekannt ist, bei einer grossen Suchaktion entdeckt. Ist dies ein gutes Zeichen?
Nein, es handelt sich um ein einziges Exemplar einer einst im Doubs weiter verbreiteten Art, die nun aber kurz vor dem Aussterben steht. Es ist unklar, ob es überhaupt noch eine lebensfähige Population gibt. Ähnlich starke Rückgänge gibt es bei den einheimischen Grosskrebsarten, deren langfristiges Überleben in der Schweiz fraglich ist.
Es ist wichtig, Massnahmen zum Erhalt bestehender Lebensräume zu ergreifen und diese auch besser untereinander zu vernetzen.
Jede dieser Arten hat eine wichtige Rolle im Ökosystem. Fehlt sie, werden ökologische Nischen nicht mehr besetzt. Man könnte dies mit einem Flugzeug vergleichen, bei dem Teil für Teil weggenommen wird, irgendwann stürzt es ab: Ein Ökosystem, dem Arten verloren gehen, verliert auch seine Funktion.
Gemäss der Studie ist fast jede sechste Libelle verschwunden. Wie sieht die Situation hier aus?
In der Schweiz ist sogar rund jede dritte Libellen-Art gefährdet. Zum Beispiel lebt die nur zwei Zentimeter kleine Zwerglibelle, die winzigste Libelle Europas, bei uns nur noch in zwei, drei Moor-Gebieten, die kaum grösser sind als ein Fussballfeld. Das eine befindet sich im Zürcher Oberland am Pfäffikersee, das andere am Neuenburgersee. Diese Vorkommen sind etwa durch die Austrocknung der Moore akut bedroht.
Wie gravierend ist der Verlust solcher Arten?
Sehr. Denn im Süsswasser leben weltweit mehr als zehn Prozent aller bekannten Arten. Man darf nicht vergessen, dass diese Vielfalt zu einem gesunden Ökosystem beiträgt und sich gesamthaft gesehen auch positiv auf den Nährstoffkreislauf oder funktionierende aquatische Ökosysteme auswirkt. Deshalb ist es unter anderem wichtig, Massnahmen zum Erhalt bestehender Lebensräume zu ergreifen und diese auch besser untereinander zu vernetzen.
Das Gespräch führte Barbara Reye.