Und wieder hält der Berg ob Brienz eine Überraschung bereit. Dieses Mal ist es endlich eine positive: Die Felsmassen, wegen derer die Brienzer ihr Dorf überraschend schnell verlassen mussten, bewegen sich plötzlich weniger schnell als ursprünglich berechnet. Was bedeuten könnte, dass die Brienzer weniger Angst vor dem verheerenden Bergsturz haben müssen.
Vorsichtig positive Prognosen
Daniel Figi gehört zum Geologenteam, das den Berg beobachtet und vermisst. Er ist vorsichtig positiv: «Die Geschwindigkeiten sind weiterhin hoch und die Beschleunigung kann wieder zunehmen. Aber das Szenario Bergsturz wird je länger, je unwahrscheinlicher. Für eine Entwarnung ist es aber noch zu früh.»
Bei den Verantwortlichen der Gemeinde tönt es ähnlich. Man müsse die Entwicklung ein paar Tage beobachten. Erst dann könne man sehen, ob sie einen neuen Trend anzeige oder nur ein kurzfristiger Ausreisser sei.
Ein zentrales Kriterium bei der Beurteilung eines Bergsturzes ist die Entwicklung der Beschleunigung. Solange diese linear zunimmt, besteht wenig Gefahr. Der Rutsch wird einfach immer etwas schneller.
Nimmt die Beschleunigung aber exponentiell zu, ist die Katastrophe absehbar. In Brienz ist die Beschleunigung nun wieder linear, nachdem sie sich in den vergangenen Wochen exponentiell entwickelt hat.
Ein Schuttstrom wie 1877
Die neue Entwicklung macht gemäss Figi den verheerenden Bergsturz unwahrscheinlicher, begünstigt aber ein anderes Szenario: «Entwickeln sich die Geschwindigkeiten weiterhin so wie jetzt, wird ein Schuttstrom gleich wahrscheinlich wie das bislang wahrscheinlichste Szenario einzelner Felsstürze.»
Die Gemeindeverantwortlichen sehen aber noch keinen Grund, die Szenarien anzupassen. Für eine Aussage über die Wahrscheinlichkeiten sei es zu früh.
Das Phänomen Schuttstrom ist bekannt in Brienz. Aus dem Jahr 1877 ist ein Schuttstrom dokumentiert, der unter dem Flurnamen «Igl Rutsch» noch heute sichtbar neben dem Dorf liegt. Und in einer Bohrung oberhalb von Brienz haben die Geologen dieses Jahr Hinweise gefunden, dass bereits früher Teile der nun rutschenden Gesteinsinsel als Schuttstrom abgeglitten sind.
Ein Tempo wie zähflüssiger Honig
Ein Schuttstrom rutscht wie zähflüssiger Honig talwärts, mit einer Geschwindigkeit von bis zu mehreren Metern pro Tag. Er zerstört dabei alles, was sich ihm in den Weg stellt. Auch Häuser. Doch – und das ist eine weitere gute Nachricht für Brienz – zeigen sowohl der «Igl Rutsch» als auch die aktuell schon abgerutschten Inselteile: Beide Schuttströme blieben vor dem Dorf stehen.
Unberechenbarer Berg?
Doch warum treffen die Prognosen eines baldigen Felssturzes jetzt überraschenderweise wohl doch nicht zu? Daniel Figi erklärt: «Wir haben Modelle, auf die wir für unsere Berechnungen zurückgreifen können. Diese basieren auf bisherigen Bergstürzen.» In diesen Modellen sei allerdings nur mit einer Gesteinsart gerechnet worden. «In Brienz jedoch sind drei Gesteinsarten kombiniert, was die Entwicklung schwieriger berechenbar macht.» Denn jedes Gestein rutsche anders.
Dass allerdings beim drohenden Bergsturz von Brienz mit Überraschungen gerechnet werden muss, überrascht eigentlich schon lange niemanden mehr.