«Ich stand mein ganzes Leben unter enormem Druck, alles richtig machen zu müssen.»
«Ich habe nie gelernt, auf meine innere Stimme zu hören.»
«Da Kritik unerwünscht war, ging ich.»
Solche und weitere Posts finden sich auf dem Instagram-Kanal “Freikirchen.Ausstieg”, geschrieben von jungen Menschen, die ihren Gemeinden den Rücken gekehrt haben.
Eine von ihnen ist Melanie. Im Frühling 2021 hat die 22 Jahre alte Frau aus St. Gallen mit ihrem Glauben und ihrer Gemeinde gebrochen. Ein Grund für ihren Austritt ist ihre Pansexualität. Melanie liebt Menschen, unabhängig ihres Geschlechts. «Ich bin damit aufgewachsen, dass Homosexualität Sünde ist. Für die Menschen muss man beten, das sind arme Seelen. Das auszuleben war nie ein Thema.» Jetzt fühle sie sich so frei wie nie.
Auch die 33 Jahre alte Sarah aus Schwyz ist in einer Freikirche aufgewachsen und fühlte sich schon früh eingeschränkt: «Ich habe gemerkt, dass ich die ganze Zeit beschnitten werde. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich etwas Schlechtes mache oder schlecht bin», erzählt sie. Das Schwarz-Weiss-Denken habe sie bewogen, die Gemeinschaft mit 16 Jahren zu verlassen. Sie wollte einfach das Leben einer Jugendlichen mit allem, was dazu gehört. Feiern, sich ausprobieren und erste sexuelle Erfahrungen sammeln dürfen. Sex vor der Ehe sei in ihrer Freikirche Tabu. «Ich habe Erfahrungen gesammelt und fand das überhaupt nicht sündig oder schlimm, sondern im Gegenteil sehr schön.»
Rund 1.500 Freikirchen gibt es in der Schweiz. Das Frei im Namen steht dabei nicht für theologisch liberal, sondern unabhängig vom Staat. Freikirchen finanzieren sich über Spenden und Mitgliedsbeiträge und nicht über die Kirchensteuer wie die Landeskirchen.
Eine wirklich verlässliche Zahl, wie viele Menschen hierzulande in einer Freikirche sind, gibt es nicht. Ein nationales Forschungsprogramm zum Thema geht von schätzungsweise 200’000 bis 250’000 Anhängern aus.
Diese engagieren sich sehr stark in ihren Gemeinden. Gemäss einer Stichprobe nehmen in der Schweiz an einem normalen Wochenende rund 690’000 Menschen an einem religiösen Ritual teil. Davon machen Freikirchenmitglieder ein Drittel aus, doppelt so viele wie bei den Reformierten.
Blieben Melanie und Sarah einem Gottesdienst fern, fiel das in ihren Gemeinden sofort auf. «Ich bin in einer Kirche gross geworden, wo die Leute genauso gut wussten, wenn du nicht dort bis, wie wenn du dort bist,» sagt Melanie.
In diesen Gemeinschaften werde teilweise ein Idealtypus des Menschen vorgegeben, wie er zu sein habe, erklärt die Psychologin und Leiterin der Sektenberatungsstelle Infosekta Susanne Schaaf. «Diese jungen Leute wissen ganz genau, was gut ist, was verpönt ist und was sie nicht dürfen. Und wenn man sich daran ausrichtet, kann es sein, dass die Persönlichkeitsentwicklung zu kurz kommt.»
Es gebe aber durchaus auch positive Aspekte: Die Gemeinschaft, Verbundenheit und Unterstützung könnten Menschen sehr viel Halt geben, da sind sich Melanie, Sarah und Susanne Schaaf einig.