Dass Milo Rau gleich am Anfang auf die legendäre Inszenierung mit Heinrich Gretler als Tell aus dem Jahr 1939 anspielt, hat Methode. Und ist gleichzeitig fatal für den Abend.
Die damalige Inszenierung am Zürcher Schauspielhaus wurde zu einem Symbol der geistigen Landesverteidigung. Bei der Premiere soll das Publikum bei der Rütlischwur-Szene spontan aufgestanden sein und die damalige Landeshymne gesungen haben. Das Theater bezog damals Position gegen den deutschen Faschismus. «Wilhelm Tell» einigte das Land.
Historische Spuren bis ins Heute
Eine melancholische Sehnsucht nach einer vergleichbaren Positionierung durchzieht die Inszenierung von Milo Rau. Die Deutungsgeschichte wird herbeizitiert: Zitate aus Tell-Verfilmungen und alte Tonspuren treffen auf die Gegenwart. Denn um diese geht es Milo Rau. Es ist nicht ein einziger Darsteller, der den Tell spielt, sondern es sind viele.
Persönliche Geschichten und ihre politische Dimension
Neben Schauspielern aus dem Ensemble hat Rau auch Laiendarstellerinnen gecastet, die in die Schuhe des Freiheitskämpfers schlüpfen, um von ihren eigenen Freiheitsvorstellungen zu erzählen. Das ist teilweise menschlich berührend und wirkt dann wieder etwas beliebig.
Da ist ein Jäger, wie Tell einer war. Da ist ein Behindertenaktivist, der wie Tell für seine Rechte kämpft. Da ist eine junge Pflegerin, die vom Pflegenotstand unter Corona erzählt. Oder da ist Irma Frei, die in den 1960er-Jahren von der Behörde versorgt wurde und als Zwangsarbeiterin in einer Fabrik von Emil G. Bührle arbeiten musste.
Bührles umstrittene Kunstsammlung, und wie die Schweiz damit umgeht, wabert ähnlich wie die nostalgischen Geschichtsbilder durch die Inszenierung. Typisch Schweiz, sei dies. Der neue Anbau des Kunsthauses, wo die Bührle-Sammlung hängt: eine heutige Zwingburg. Aber die Analogie greift nicht wirklich, die Kritik rennt offene Türen ein und bleibt vage.
Moralisch vereinfacht
Dass die heutige Schweiz diverser ist als die Handvoll Männer, die sich bei Schiller gegen die Fremdherrschaft zusammenschlossen: Wen müsste man davon heute noch überzeugen?
So verweben sich die assoziativen Fäden aus biografischen, politischen und historischen Assoziationen mit einigen ikonischen Szenen aus Schillers Stück. Mehr bleibt vom Freiheitsdrama aus dem Jahr 1804 nicht übrig.
Den Tell-Mythos neu aufladen
Milo Rau interessiert vielmehr der Mythos Tell, und wie man diesen mit aktuellen Zeitfragen aufladen kann. Dass das Publikum am Ende aufgerufen wird, aufzustehen und gemeinsam den Schweizerpsalm zu singen, versucht nochmal einen Link zur legendären Inszenierung von 1939 herzustellen.
Gesungen wird in der Rau-Inszenierung die Nationalhymne als Gospel. Der Anlass ist nicht der Rütlischwur, sondern die symbolische Hochzeit eines eritreischen Sans-Papiers mit einer Schweizer Offizierin.
Wie ein unvollständiges Mosaik
Der Abend bleibt ein Haufen aus kleinteiligen Mosaiksteinchen und konkreten Geschichten, die sich nicht zu einem Gesamtbild zusammenfügen lassen wollen. Das mag ein realistisches Abbild des Zeitgeistes sein. Ein dichter Theaterabend ergibt sich daraus nicht.